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Todeskunde  im Generalsudelheft

In Schilten, im hintersten Aargau, diktiert Armin Schildknecht seiner Einheitsförderklasse in die nebelfesten Generalsudelhefte. Er, der einst angetreten war, es besser zu machen als sein Vorgänger Haberstich, welcher seine SchülerInnen mit ausgestopften Vögeln quälte, erfindet immer neue Fächer. «Wo werdet ihr vorbereitet, beantwortet die Schulhauskunde; wer bereitet euch vor, beantwortet die Lehrerkunde; worauf werdet ihr vorbereitet beantwortet die Friedhofkunde.» Die Vogelkunde ist abgeschafft worden, «wie überhaupt die Realien» immer mehr durch «Surrealien und Irrealien ersetzt» werden. Wen wundert’s, dass nicht mehr fürs Leben, sondern für den Nebel gelernt wird in einem Dorf, wo die Turnhalle auch als Abdankungshalle dient und der Friedhof gleich beim Schulhaus liegt. Hermann Burgers erster Roman – 1976 erschienen – ist eine gigantische Rechtfertigungsschrift eines an den Verhältnissen gescheiterten Lehrers, eine radikale Anklage, eine Worterfindungs-, eine Benamsungsorgie und in alledem eine sorgfältigst recherchierte Studie über das Schweizer Hinterwäldlertun. Ein grossartiges Buch!

Hermann Burger, Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Roman, Fischer Taschenbuch, ca. 19.-- Fr.


Kleine und Grosse Fluchten

Der sogenannte «Alternativtourismus» hat seine Unschuld längst eingebüsst. Man denke nur an all die Kifferinnen und Hänger, die etwa in Marokko auf den Spuren von Paul Bowles wandeln, einsame Strände suchen und sich dort den Kopf volldröhnen. «Recht geschieht ihm», geht einem durch den Kopf, wenn einer dieser Abenteurer – der Held in Paul Lukas' Roman «Ihn» – wegen Haschisch-Schmuggel in Tierfutterdosen im spanischen Knast landet und dort recht unsanft behandelt wird. Doch da weiss dieser noch nicht, dass der schmierige Hermann, der ihm die Freundin ausgespannt hat, die Kaution hinterlegen wird, um ihn freizubekommen... Das Unheil ist vorprogrammiert. Lukas, einst Mitglied bei der Band «Element of Crime», ist ein schnelles Sommerbuch übers Reisen, Kiffen und Ficken gelungen. Manchmal etwas gar salopp erzählt, umgeht er mit nachdenklich stimmenden Passagen über die bundesdeutsche Enge aber der Gefahr, ins Triviale abzurutschen. Eine gute Lektüre für heisse Herbsttage. 

Auch Silvio Huonder schildert eine Flucht. Doch Fabio Bosch, der ein paar Tage vor der Entlassung die Rekrutenschule schmeisst, seinen Verteidiger – und Vater der Freundin! – verarscht und zehn Monate Knast aufgebrummt bekommt, verlässt die Schweiz nie. Von Chur aus, wo er seine Strafe hätte absitzen müssen, geht's nach Bern, und das neue Leben scheint schon im Zug Tatsache zu werden, als ihn die junge Schauspielerin Marie verführt. «Wie schön ist es doch in der Schweiz zu leben, deren Zugtoiletten so sauber sind», schreibt Fabio in sein Übungsheft der Chemie, dessen leere Seiten er von hinten füllt und damit in ein Übungsheft der Liebe verwandelt. Gekonnt entwirft Huonder in seinem zweiten Roman ein Bild der späten siebziger Jahre, in denen – vor AIDS und Zivildienst – freie Liebe und Rebellion noch möglich schienen. Ein Roman mit Drive und nicht zuletzt vielen Einblicken in das unbekannte Wesen Mann. «Habe völlig vergessen, mit wem ich im Bett gelegen habe», sinniert Fabio einmal unter der Dusche. Als ihm der Duft in die Nase steigt, fällt es ihm plötzlich wieder ein: «Natürlich, Rexona! ich bin bei Karin!» 

Paul Lukas, Ihn. Roman, Reclam Leipzig, Originalausgabe, 218 Seiten, sFr. 16.80; Silvio Huonder, Übungsheft der Liebe. Roman, S. Fischer, 208 Seiten, ca. sFr. 31.50 
 

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Zwischen den Sprachen

Erst langsam kommen sie aus dem Schatten der Nichtbeachtung. Seit Jahren oder gar Jahrzehnten leben sie in der Schweiz, schreiben in ihrer Muttersprache oder den Weltsprachen Englisch, Spanisch oder Französisch. Viele der im Buch «Küsse und eilige Rosen» vertretenen SchriftstellerInnen erscheinen nun zum ersten Mal auf Deutsch. Andere wie Yusuf Yesilöz, der in seinen Erzählungen die verlorene Heimat und den Kampf  der KurdInnen gegen ihre Unterdrücker beschreibt, haben nun begonnen auf Deutsch zu schreiben. Der Verlust der eigenen Sprache, und der mühsame Weg die Fremdheit einer neuen Sprache nicht nur im Alltag, sondern auch literarisch zu überwinden, macht das Gemeinsame vieler Texte aus. Doch das ganze Buch lebt vor allem von der Qualität der Literatur, die hier versammelt ist. Schöne Fotografien und eine Menge von ergänzenden Informationen tragen das ihre zu dieser gelungenen Anthologie bei. «Küsse und eilige Rosen» ist – so meine Prognose -– wohl das beste Lesebuch von «Schweizer» AutorInnen , von denen bis zur Buchmesse 1998 noch eine Menge herauskommen werden. 

Küsse und eilige Rosen. Die fremdsprachige Schweizer Literatur. Ein Lesebuch, Limmatverlag 1998, sFr.  36.--

Nebelspalter tot – Seibt lebt

Rezession und Wirtschaftskrisen seien gute Zeiten für Satire, meinte Constantin Seibt im Zischtigs-Club von SF DRS zum Thema Humor. Dieses Diktum aus berufenem Mund galt offenbar nicht für die einzige Schweizer Satirezeitschrift, die auf Ende April wegen fehlenden Inserateeinnahmen eingegangen ist. Schuld daran ist aber in erster Linie obengenannter Seibt, auch als Familie Monster oder kanibalistischer und/oder drogenverschmähender Goethe-Wiedergänger bekannt. Ein Abo von WoZ und NZZ-Folio, in denen Seibts Texte regelmässig erscheinen, ersetzte seit langem locker den alten Nebelspalter. Wem das zuwenig ist, der oder die, kann sich nun – 1/2 Jahr nach dem «Buch Monster» – «Bad News» zu Gemüte führen. «Heiraten in Glasgow» und «Goethe und das Marihuana» zwei der all-time-favorits Seibt'scher Schreibe  munden auch nach wiederholtem Genusse vortrefflich. Nur in der Druckerei haben sie zu lange am Leim geschnüffelt – das Buch zerfällt in Rekordzeit in seine Bestandteile; ob sich da die sensible Seele des Dichters offenbart? Doch genug gemäkelt! Hier kann es nur ein Schlussurteil geben: Kaufen! Kaufen! Kaufen! 

Constantin Seibt, Bad News, Theodor Schmid Verlag, 84 Seiten, sFr. 14.-- 
 

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Kinder in einer Zeit des Tötens

Der japanische Nobelpreisträger Kenzaburo Oe beschreibt in seinem Roman «Reisst die Knospen ab» nicht das Sterben an der Front, sondern das Hinterland und eine durch den Krieg traumatisierte und brutalisierte  Gesellschaft. Eine Gruppe heranwachsender Jungen wird aus einer Besserungsanstalt evakuiert und durch das Land getrieben. Als sie in einem abgelegen Dorf die Nacht verbringen sollen, fliehen die Dorfbewohner und die Bewacher vor einer Seuche, lassen die Jungen zurück und schneiden ihnen den einzigen Fluchtweg ab. Gefangen und doch frei, öffnet sich für kurze Zeit eine utopische Welt der Anarchie. Oes erster Roman – nach 40 Jahren erstmals ins Deutsche übersetzt – überzeugt durch seine poetische Sprachkraft und ist eine flammendes Bekenntnis gegen den Krieg. 

Kenzaburo Oe, Reisst die Knospen ab... Roman, aus dem Japanischen von Otto Putz,  S. Fischer Verlag 1997, ca. 34.-- Fr.

Phantastischer Realismus

Könnte ein Buch schöner beginnen? Wie immer, wenn sie spazieren gehen, kriegt der 11jährige Held von seinem Grossvater sechs Limos und sechs Eis spendiert. Der «Grossvater, ein ungewöhnlicher und schrecklicher Mensch» tut dies aber nicht ohne Hintergedanken, lässt er doch seinen Enkel an Kirchentüren pinkeln, worauf es regelmässig zu Handgemengen mit den Priestern kommt. Der 1949 geborene Luis Sepúlvera beschreibt in der Folge seinen Weg durch die Gefängnisse der chilenischen Militärdiktatur, ins Exil nach Europa und wieder zurück nach Südamerika, wo er die LeserIn auf eine phantastische Reise nach Patagonien mitnimmt. Er nimmt kein Blatt vor dem Mund, wenn es darum geht die Schergen des Diktators Pinochet anzuklagen – und behält seinen Sarkasmus auch dann, wenn er Einzelhaft und Folter schildert, die er erleiden musste. Dieser beissende Humor macht im Kontrast mit der liebevollen Ironie, mit der Luis Sepúlvera seine Freunde und die vielen schrägen Vögel in seinen Geschichten zeichnet, den ganz speziellen Reiz dieses kleinen, feinen Buches aus. 

Luis Sepúlvera, Patagonien Express. Notizen einer Reise. Aus dem chilenischen Spanischen von Willi Zurbrüggen, deutsche Erstausgabe, Fischer Taschenbuch 1998, sFr. 14.90 

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Filmjäger und Videobauern 

«Solange ich zurückdenken kann, bin ich im Kino gewesen», bekennt Kurt Scheel. «John Wayne & Ich ist denn auch in erster Linie ein liebevolles Buch. Nostalgisch wird Scheel, wenn er den Lichspieltheatern seiner Jugend nachtrauert, bitterböse, aber, wenn die tiefsinnigen KritikerkollegInnen, die Langeweiler (Greenaway) oder die geadelten Ekelfilmer wie David Fincher («Seven») ihr Fett abkriegen. Ein Buch für alle passionierten KinogängerInnen, die «Jäger» nach guten Filmen, Scheel muss allerdings bekennen, dass er «von Filmjäger zum Videobauern» mutiert ist. Ein Leben, das sicherer, geordnet und ein wenig langweilig ist, dafür die Chance bietet, endlich alle drei Folgen des «Paten» am Stück zu sehen und zu erkennen, welch grosses «Meisterwerk unserer Zeit-» Francis Ford Coppola uns hinterlassen hat. Ein Buch, das Lust macht auf mehr Lichtspiele, auch wenn die Frage, ob man denn nun alleine oder mit FreundInnen ins Kino gehen soll unbeantwortet bleibt... 

Kurt Scheel, Ich & John Wayne. Lichtspiele, Editionn Tiamat 1998, gebunden, 230 Seiten, ca. sFr. 30.-- 
 

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Jugendbuchklassiker

Da hat der Rezensent einen ganzen Stapel Bücher über das toughe Leben in der Bronx (oder Berlin, wenn’s ein deutscher Autor ist) vor sich, sieht dann aber in der Buchhandlung die Neuausgabe der «Schwarzen Brüder», dieser bewegenden Geschichte der Tessiner Kaminfegerjungen, die von den Eltern für zwanzig Franken nach Mailand verkauft werden. Das Buch Lisa Tetzners, – der Frau von Kurt Held, dem Schöpfer der «Roten Zora» – überbrückt mehr als eine schlaflose Nacht. «Die Schwarzen Brüder» sind ein Dokument der Armut in der Schweiz des letzten Jahrhunderts und der Ausbeutung von Kindern, aber auch ein flammendes Bekenntnis für eine Solidarität der Unterdrückten. Würde, Ehrlichkeit und Mut tragen am Schluss Früchte. Dieses positive Ende und die Utopie, die man damit verknüpft, sind wohl auch eine Antwort auf die Situation von Tetzner und Held, die gemeinsam im Schweizer Exil, umgeben von faschistisch regierten Ländern an diesem Buche schrieben. Die schöne Taschenbuchausgabe in der neuen Reihe «Sansibar» des Unionsverlags lädt ein zum Wieder- und Neulesen dieses Jugendbuchklassikers. 

Lisa Tetzner, Die schwarzen Brüder, Unionsverlag Taschenbuch Reihe Sansibar 1998, 470 Seiten, sFr. 16.90 

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Endlich Brecht lesen!

Nichts Schlimmeres kann einem Schriftsteller passieren, als Klassiker zu werden, oder gar als Schulbuchautor zu enden. Und jetzt will man ihn euch sogar noch im Toaster empfehlen... Brecht, der zynische Menschenfeind, Brecht der klassenkämpferische Marxist, Brecht, der das Theater erneuerte. Die Doors und Louis Armstrong sangen seine Lieder, der «revolutionäre Aufbau Zürich» zitiert ihn auf seinen Flugblättern (früher machte das auch die SP). Auch Lyrikverächter sollten sich mal eine Ausgabe mit Brechts Gedichten besorgen oder gleich die 6-bändige Jubiläumsausgabe kaufen, die anlässlich seines 100. Geburtstages erschienen ist. Heute bezahlt man für jede abgefuckte Party mit ein bisschen Drogen mehr. Und die kann man mit Brecht auch haben... 

Bertold Brecht, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Rotes Leinen, Suhrkamp Verlag 1997, sFr. 89.--

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Die glücklichen Arbeitslosen

Wieso neue Bücher lesen, wenn man «Die Glücklichen» noch nicht kennt? Vom Verlag «Das Neue Berlin» ist jetzt endlich der witzigste, ja schlichtweg beste Roman über die bewegten Jahre nach 68 wieder aufgelegt worden. Peter-Paul Zahl hat diesen Schelmenroman während seiner langjährigen Knastzeit geschrieben – er wurde verurteilt als «Gegner des Staates und zur allgemeinen Abschreckung». Auf über 500 Seiten erzählt Zahl das Leben einer Kreuzberger Ganovenfamilie, und bietet «mannigfaltige Einblicke in die Welt derer, die nicht mehr mitmachen wollen», wie 1979 die NZZ beim Erscheinen des Buches schrieb. Lasst Euch von diesem Lob nicht irremachen und geniesst als «Beigabe» zur Geschichte auch die Zeitung «Der glückliche Arbeitslose» und den «Findex» mit dem Wichtigsten über Charly Marx, Che und die «Unnennbaren».* 

Peter-Paul Zahl, Die Glücklichen. Ein Schelmenroman, Verlag Das Neue Berlin,528 Seiten, fest gebunden, ca. 36.— 

*Fussnote: Unnennbare, die: heissen bei 
den herrschenden Terroristen «Terroristen»

 
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10 Jahre «Megafon»

Gedruckt wird es in der autonomen Reithalle Bern und kann diesen November ein kleines Jubiläum feiern: Das Megafon wird zehn! Keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, wo andere (linke) Zeitungen verschwinden. In Gratisarbeit werden jeden Monat 40 Seiten produziert mit Themenschwerpunkten – Antirassismus, Widerstand, Drogenpolitik oder in der letzten Nummer die eigene Geschichte –, sowie Artikeln zum aktuellen Politgeschehen. Spannend, was etwa über die «Chaostage» in Bern zu lesen war! Natürlich wird der Rot-Grün-Mitte-Stadtregierung regelmässig ans Bein gepisst, anders aber als etwa die Zürcher Autonomen – oder wie der Teufel, der das Weihwasser fürchtet – scheut man in Bern sich nicht, auch einmal einen Abstimmungskampf zu führen («Jugend ohne Drogen») oder gar ein Referendum zu ergreifen (gegen das repressive Polizeigesetz). Übrigens: Wer in der Beiz der Reithalle sein Bier säuft, liefert automatisch einen Beitrag an die Produktionskosten des Megafons. Wer es abonniert auch. Man behält aber dabei einen klaren Kopf. Ihr könnt wählen! 

Megafon, Zeitung aus der Reithalle Bern mit PROgramm, Postfach 7611, 3001 Bern, Abo mind. 42.-- 

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Die Hölle auf Erden

Aleksandar Tismas Bücher werden erst seit einigen Jahren aus dem Serbokroatischen ins Deutsche übersetzt. «Kapo» ist der vierte Roman, der nun vorliegt und er handelt wieder, wie das vielgelobte «Buch Blam», vom Weiterleben nach dem Holocaust. Vilko Lamian kehrt nach dem Krieg nach Jugoslawien zurück und versucht ein unscheinbares Leben zu führen, bis ihn die Gespenster der Vergangenheit einholen. Anders als Blam ist der Jude Lamian aber kein Opfer, sondern hat sich, um zu überleben als Kapo in Auschwitz auf die Seite der Nazis geschlagen. Er mordete, um nicht selbst umgebracht zu werden. Der Roman geht mit seinen realistischen Schilderungen an die Grenze des Zumutbaren. Lamian lässt sich Frauen in einen Werkzeugschuppen bringen, um sie dann für eine Scheibe Brot mit Fleisch und ein Glas Milch zu vergewaltigen. Noch nie habe ich in einem Roman die Verschränkung von Gewalt und Sexualität so eindrücklich geschildert gesehen, wie in Tismas «Kapo». Und immer wieder zwischen den Seiten denkt man an den jugoslawischen Bürgerkrieg, die Saat des nationalistischen Wahns, die wieder aufgegangen ist. Das Buch aber erschien bereits 1987. Doch wer hat es damals gelesen? 

Aleksandar Tisma, Kapo, übersetzt von Barbara Antkowiak, Carl Hanser Verlag 1997, 341 Seiten, Fr. 42.-- 
 

 

 
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