Seite 8||||
Zurück zu Seite 1 des Hinkenden Boten
[Grafik] Der lebendige Tote vom Schwarzsee
.V|o|n|| J|Ü|R|G| K|I|L|C|H|H|E|R|
Maria Zbinden lebte mit ihrem zweijährigen Florian am Schwarzsee.

Seit einem Unfall mit dem Mähdrescher fehlten ihr beide Hände. Dies schränkte ihre Arbeit als Bäuerin stark ein. Also verdiente sie sich zusätzliches Geld im Auftrag des Gemeinderates als Verkünderin von Todesfällen. Von Hof zu Hof im steilen Gelände ging sie, um das Sterben eines Dorfbewohners den Leuten mitzuteilen.

Seit Florian auf der Welt war, mischte sich in Marias Schwermut zeitweise Fröhlichkeit, und ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Sohn, was ihren Mann kränkte. Bei ihren täglichen Spaziergängen um den Bergsee oder wie heute auf dem Weg zum Gottesdienst erklärte Maria ihrem Sohn die Licht- und Naturschauspiele der Voralpen. Verdunkelte sich der Himmel und warf die Gipsera, der hohe Berg über dem Schwarzsee, ihren Schatten auf das Wasser, begann Maria zu singen, und die Leute im Dorf wussten, Maria versuchte die Naturgeister zu besänftigen.

Mit einem Summen lief sie durch die Gegend, als ein Geräusch von jungen Enten im Schilf Florians Aufmerksamkeit auf sich zog. Die wollte er unbedingt sehen. Also nahm Maria den Blondkopf mit ihren Armstummeln aus dem Kinderwagen und trug ihn zum Nest, als ein Mäusebussard tief über sie hinweg flog. Maria erschrak, schaute kurz zum Himmel und verlor das Gleichgewicht, Florian fiel ins Bergseewasser.

Zur gleichen Zeit, viele hundert Kilometer weiter in Andalusien, versuchte eine Zigeunerin dem Gifferser Anton Bertschy aus der Hand zu lesen. Doch als ihr alter Zeigefinger der Lebenslinie des Senslers entlang fuhr, unterbrach sie ihre Vorhersagen. Kehrte nur die Hand um, legte einen Gegenstand hinein und formte die Hand zur Faust.

Anton Bertschy erschrak und ging einen Schritt zurück. Öffnete die Faust. Einen ganz gewöhnlichen, schmucklosen Spiegel, halb blind, hatte er vor sich.

«Was soll ich mit diesem Glas?», fragte er die Zigeunerin.

«Dieser Spiegel ist zwar klein, er besitzt aber eine besondere Gabe. Sein Besitzer kann, ob nah oder fern, tief in jeden Menschen blicken, den er sich wünscht. Du wirst ihn noch oft gebrauchen», sagte sie ihm und schaute dabei in seine Augen

Anton Bertschy verstand nicht und ging weiter, steckte den Spiegel in seine Reisetasche und bestieg die Bahn nach Gibraltar, von wo er mit dem Schiff nach Marokko weiterreiste. Dort wollte er den Schweizer Botschafter treffen.

Der Atlantik zeigte den Schiffspassagieren auf der Überfahrt nach Tanger seine ganze Kraft. Warf die Marokkaner und Touristen bei hohem Wellengang in die Luft. Vielen wurde es übel. Nur Anton noch nicht. 

Er schaute die ganze Zeit in den Spiegel. Immer wieder sah er einen Fisch mit einem Menschenkopf. Es war der Kopf eines Kindes. Mit Speichel versuchte Anton die Trübheit des Glases aufzuhellen und bald bestätigte sich sein Verdacht. Es war das Gesicht von Florian, dem Nachbarsjungen. Antons Gesicht wurde bleich.

Im Hafen von Tanger angekommen, stieg ihm der Geruch von toten Fischköpfen, die die Händler auf dem Marktplatz am Morgen vom Fischlaib getrennt hatten, in die Nase. Scharen von Möwen zankten sich um die Kadaver und übertönten das Weinen hinter den Schleiern der Frauen, die einem Leichenzug über den Marktplatz folgten.

Auf einem Harasse sass ein altes Männlein mit gebeugtem Kopf. Anton ging auf ihn hin zu und wollte es nach dem Weg zum Hotel fragen. Doch das Männlein antwortete nicht auf sein Fragen, sondern sagte nur immer und immer wieder «La mort n’est pas la fin, la mort n’est pas la fin» und drückte ihm ein Fläschchen Balsam in die Hand.

«Wozu brauche ich Balsam?», fragte Anton, «Ich bin nicht krank.»

«La mort n’est pas la fin», antwortete das Männlein, Anton erschrak. 

«Ich brauche dieses ganze Hexenzeugs nicht», fluchte Anton.

Er griff in die Hosentasche und wollte den Spiegel und das Fläschchen Balsam in einem hohen Bogen ins Meer werfen. Da erhob sich ein Fisch aus dem bleigrauen, spiegelglatten Wasser. Sprang hoch ins strahlende Licht, das ihn vergoldete. Er schien sich eine halbe Ewigkeit in der Sonne zu halten, um dann wieder unterzutauchen. Zurück blieb eine Furche im Meer, die sich nicht wieder schloss.

Anton schaute in den Spiegel. Er sah Maria. Ihre Hände umfassten die Kolben der Bettstatt. Schweiss vermischte sich mit ihren Tränen. Ihr Gesicht war zerknirscht, wütend. Sie schrie im Wahn. 

«Da ist etwas Furchtbares geschehen», dachte sich Anton, «bloss was? Ich verstehe all diese Zeichen, die mir der Spiegel zeigt, nicht.»

Und dann tauchte im Spiegel wieder Florian mit einem Fischkörper auf, bevor sich die Furche im Meer vor Antons Auge schloss und der Spiegel erblindete. Die Ebbe trieb das Wasser vom Ufer.

«Ach, hier sind Sie», ertönte plötzlich eine Stimme hinter Antons Rücken, «ich fürchte, Sie seien erst gar nicht gekommen wegen des Unfalls».

* * *

«Botschafter Berger, ich freue mich, Sie zu sehen. Unfall, sagten Sie? Was für einem Unfall ?» fragte Anton den Schweizer Diplomanten verdutzt.

«Das Schwarzseegebiet wurde von einem schweren Unwetter heimgesucht, die Bergbäche schwollen innert Minuten an, brachten Gestein und Geröll ins Tal, der See lief über, ein Junge wird vermisst.

«Ein Jun…?» Anton verschluckte die letzte Silbe des Wortes.

Noch mit dem Nachtflug kehrte er in die Schweiz zurück. Es regnete in Strömen, als Anton mit dem Taxi an der Kathedrale in Freiburg vorbeifuhr.

Sein rechtes Bein begann langsam einzuschlafen. Mit Massieren versuchte er es wieder zum Leben zu erwecken, als ihm der Spiegel aus der Hosentasche rutschte. Er schaute ihn an und sah, wie zwei Polizisten den toten Körper von Florian ans Ufer trugen, ohne dabei das Männlein im Schilf zu entdecken, das Anton in Marokko getroffen hatte. «La mort n’est pas la fin» hörte er in sich und das Männlein zeigte mit dem Finger auf das Fläschchen Balsam.

«Heisst das, dass dieser Balsam, den mir das Männlein gegeben hat, etwa Tote zum Leben erwecken kann?», fragte sich Anton.

Am nächsten Morgen goss Anton mit einer hastigen Bewegung drei Tropfen Balsam auf die Stirn von Florian, der aufgebahrt im milden Licht des Kirchenschiffes lag. Im selben Moment flog eine Krähe durch die offene Türe. Verzweifelt flog sie gegen die Reliefs, brachtsich einen Flügel und fiel neben dem Sarg zu Boden. Florians Augen öffneten sich, die kleinen Finger berührten Antons Hand, doch sein Mund blieb stumm. Stumm wie die Fische. Seine Begleiter auf dem Weg vom Tod zum zweiten Leben.

*Jürg Kilchherr schreibt und organisiert u.a. auch Lesungen in Zürich. 
Er sucht noch Schreibende für Auftritte im Café Casablanca im April jkilchherr@swissonline.ch


N|A|V|I|G|A|T|I|O|N : [1] [2] [3] [4] [5] [6][UP][IMP][LITERATUR IM NETZ]