Eine Langeweile

“Do you think that one could treat his paintings like novels?”
Virginia Woolf über Walter Richard Sickert

Kunstausstellungen überforderten Damian, machten ihn immer schwindelig. Er wurde wortkarg, unleidig, gar aggressiv. Am besten war es, sie allein zu besuchen. Auch mit Kino und Theater verhielt es sich so. Nichts war schlimmer als Smalltalk unter Strassenlampen. «Wir erwachen aus unseren ureigenen Träumen», hatte Damian einmal gesagt. «Wie könnten wir denn wirklich darüber reden.» Damian war aber heute nicht allein. Er sagte, er habe sich lange gefragt, warum ihn dieses eine Gemälde in der Tate Modern noch immer so sehr beschäftige. «Erstaunlich, dass es uns überhaupt aufgefallen ist», meinte Esther. Diese dichte Hängung der Bilder war nicht nur eine Überforderung des Kunstfreundes. Es sei nachgerade eine Beleidigung jedes dieser einzelnen Genies. Van Gogh, Rothko und eben auch Sickert. Damian schwieg und sie verstanden sich. Beide hatten sie die Geduld aufgebracht still vor dem Gemälde, das die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg nicht zuletzt im Titel so unglaublich treffend darstellte: L’Ennui. Die Langeweile.

Ennui c.1914 Walter Richard Sickert [Link zur Tate Modern inkl. grösserer Abbildung des Kunstwerks]

«Ibsens Gespenster spuken hier», referierte Esther. «Und Virginia Woolf…» — «Sei still.» Hier war sie wieder. Die Ermattung. Damian blinzelte in die Sonne. Er hatte nicht an Woolf gedacht. Er kümmerte sich nicht um Esthers Seminare in vergleichender Literaturwissenschaft. Sagte er jetzt Julien Green, würde sie ihn auslachen. Er würde wieder verloren haben. Sein ahistorisches freies Assoziieren. Er versuchte bei seiner Erinnerung zu bleiben. Er würde zu Esther sagen: Der Leser von Greens Romanen will immer wieder die Fenster aufreissen, lüften, Durchzug erzeugen. Green wurde kurz vor dem Tod von der Neuen Zürcher Zeitung in dessen Pariser Wohnung besucht. Man druckte damals nur die Anzeigen farbig. Die grob gerasterten Bilder waren schwarz-weiss. Doch Damian wusste: Die Vorhänge mussten dunkelrot sein, blutrot wie die samtene Ummantelung eines Sarges. Green lebte fast ein Jahrhundert lang. Ich habe ihn 1988 entdeckt. Heute kennen ihn nicht einmal mehr die Schwulen. Geschweige denn konvertierte Katholiken.

«Wenn du nicht lesend durch Balzac, Maupassant und Proust spaziert bist, kannst du Green nicht wirklich verstehen. Ich meine. Das ist nur meine bescheidene Meinung. Jetzt bleib doch stehen! Wir sprechen miteinander! Du! Die Asche sei kalt, schreibt Virgina Woolf. Wie kann sie das um Himmels Willen so genau wissen?»

Damian wischte sich den Schweiss von der Stirn. Endlich allein. Er hatte London satt. So wartete er am Bahnhof Montparnasse in Paris auf den Zug. Und schrieb:

Perrots Zigarre

Wann hatte Monsieur Perrot das fliehende Kinn des Dienstmädchens zu hassen begonnen? War es unlängst zu Weihnachten in dieser Stube gewesen oder einmal zu Ostern im letzten Jahrtausend? Gedanken schwirrten in der sommerlich dumpfen Stubenluft wie lästige Fliegen. Vergeblich blies Perrot, diese Stattlichkeit vor dem Herrgott, Rauchringe gegen den bleiernen Überdruss. Zu allem Unglück waren die Zigarren seit Jahrzehnten von der billigen Sorte. Teppiche, Vorhänge, Spitzendeckchen und auch die papierenen Blumen stanken muffig, abgestanden. Auch Schösschen und Häubchen der Clémentine. Einer dieser Sonntage und Madame war noch nicht vom Kirchgang zurück. Clémentine gehörte zum Inventar wie das kleine Grabhügel-Imitat des Brüderchens William auf der Kommode (gestorben im zarten Alter von 11 Jahren). Manchmal zerdrückte die gute Seele ein Tränchen im Augenwinkel. Wahrlich, es gibt bessere Orte als diese Stube voller Gobelins, Deckchen, Aschenbecher Nippes und Ennui. Monsieurs Hand streifte wie eine Zufälligkeit über die Schlaufe der Schürze am Rücken des leider schon ältlichen und fliehenden Mädchens. Ein Seufzer, und der Rock hob sich wie von selbst. Danach zündete Perrot die erkaltete Zigarre mit einem weiteren Streichholz wieder an. Die 3 cm lange Aschenschlange zerstäubte er, als Madame in die Stube eintrat. Wie immer entbrannte dann der Streit, ob zu lüften sei oder nicht. Madame Perrot nahm einen Hauch von Parfum wahr. „Keine Herrenbesuche, Clémentine“, lachte sie und legte das Kirchengesangsbuch auf den Stubentisch. Das Lesezeichen stak noch wie ein Messer auf Seite 315: „Kündet den Verzagten: Seid stark.“ — Pfarrer Colbert habe schön dazu gepredigt, würde Madame jetzt sagen und eine Orange schälen. Spitzige Finger, ein wenig „vergichtet“.  Auch ein schon tausend Mal gehörtes Wort. Sie genoss die einschiessende Säure in die kleine Wunde am Ringfinger. „Clémentine!“, rief sie. „Wie steht es um die Suppe?“

Felix Epper, 2019
Erschienen im Solothurner Kulturmagazin Sorock Nr. 6/2019

Felix Epper
Felix Epper, lebt und schreibt in Solothurn.