Willkommen

«Konzentriert auf wenige Seiten, eröffnen diese Geschichten schnell ganze Welten. (…) karg erzählt und voller Atmosphäre.»
Berner Zeitung

Künstlerresidenz «Villa Ruffieux» beim Château Mercier in Sierre (April 2015)

Herzlich willkommen bei «Felix Epper | schreibt».
Felix Epper lebt und schreibt in Solothurn.
2015 war er «Writer in Residence» in der Villa Ruffieux in Sierre und am 11. November 2019 wurde Felix Epper vom Kanton Solothurn mit einem Kunst- und Kulturpreis in der Sparte Literatur ausgezeichnet. Felix Epper ist Co-Geschäftsleiter der Genossenschaft Kreuz und amtet im Solothurner Gemeinderat (<– Externer Link. Der Gemeinderat ist die Exekutive der Stadt Solothurn und zählt 30 Mitglieder).
Zuletzt erschienen: Eppers gesammelte Anagramm-Gedichte Anagramme / Verweilen und stöbern Sie hier oder auf Eppers alter Homepage (1997-2015).

Nebst versponnener Poesie allerlei Künstlerisches und Fotografien auf meinem Instagramm.

Wer sich für Tages- und Kulturpolitik interessiert, folge doch auch auf ”x” vormal Twitter oder Facebook. Mailadresse: felix.epper(at)gmx.ch

Palindrome

Es klappt genau so gut von hinten. Palindrome lassen sich in beide Richtungen lesen! Why not some erotica? ”Flower boobs” — ”Olé! My a** easily fits!” — ”Ecstasy!” All in my lusty palindrome. Excuse my French! Rather for Robert Walser than Martin R.I.P.

«Ein Meister der Buchstabenakrobatik»

Felix Epper, Träger des Solothurner Fachpreises für Literatur 2019, legt ein Bändchen mit Anagrammen vor.

Thomas Brunnschweiler / Solothurner Zeitung, 14.03.2020

 

Felix Epper erklärt: «Anagramme sind Buchstabenspiele, Versetzungsrätsel und Worterfindungsmaschinen. Anagramme sind aber auch ein Zwangsmittel.» Nicht umsonst heisst das luftige, aber nicht leichtgewichtige Büchlein von Epper «Nachtwind, gezuernt – Dichten unter Zwang». Anagrammisten tragen formale Daumenschrauben und haben in jeder Zeile stets nur dieselben Buchstaben wie im sogenannten Programma zur Verfügung. Aber dies ist die Herausforderung, die zu Höchstleistungen anspornt. Bei Epper tönt das dann so: «Es huera Chrut, e / u huerestarche / Raucherhueste!». Selbst das «gezuernt» im Buchtitel ist kein Zufall. Es ist eine Hommage an die Schriftstellerin Unica Zuern, die in der Zeit des Surrealismus mustergültige Anagramme schrieb. Auch der Name von Oskar Pastior fällt mehrmals, der die Anagrammliteratur um viele Perlen bereichert hat.

Aufs Anagramm kam Epper 2005. In einem Wettbewerb des Festivals Science et cité waren die Wörter «Gewissen, Gehirn, Roesti» vorgegeben: 19 Buchstaben, die Felix Epper «zu einem Moment Stammtischprosa» formte. Sein «Röst hin Gewissen, Gier!» war einer der fünf preisgekrönten Texte des Festivals. Von da an war die Lust am Anagrammieren geweckt. Epper verfasste zu Wettbewerben oder Anlässen Gelegenheitsanagramme. Was seine Besonderheit ausmacht, ist sein extrem freier Umgang mit Sprachmaterial. Man sollte seine Anagramme laut vorlesen. Da er Hochdeutsch, verschiedene Mundarten und Fremdsprachen mixt, bleibt die Sterilität jener Anagramme aus, die mitHilfe eines Anagrammgenerators im Internet verfasst wurden. Damit erschliesst er sich einen sprachlichen Raum für konsistente und plausible Texte. In seinen Mundart-Anagrammen von 2007 wird dies deutlich, wo es heisst: «Wönigli // Woni geil / Wie n Goli / Wo gli nie / Oni Wegli / In Wile go / Gin, Wi, Öl / Ge wil oni / Wönigli.» Schnell zu lesen ist dieses charmante, geniale Sprachjuwel. Am Schluss des typografisch köstlich gestalteten Büchleins steht ein Palindrom, ein Gedicht, das von vorne wie hinten denselben Text ergibt. «Mondnah» ist gleichzeitig Formgedicht und verströmt einen Hauch Nietzsche’scher Ewigkeitssehnsucht.

Eine lange, spannende Geschichte

Obwohl man immer wieder lesen kann, Lykophron aus Chalkis (320–280 v.Chr.) sei der Vater des Anagramms, hat bereits Platon in seinem Dialog «Kratylos» das Anagramm (H)era – aér (Hera – Luft) als Beispiel seiner sprachphilosophischen Überlegungen benutzt. Der Barock war nicht nur ein emblematisches, sondern auch ein anagrammatisches Zeitalter. Auf Teufel komm raus wurden hier Fürstennamen und religiöse Texte auf anagrammatische Geheimkammern abgeklopft. Es ist die Welt hinter den Wörtern, welche die Menschen immer faszinierte. Enigmatisch, fast unheimlich erscheint uns das folgende lateinische Anagramm, das zugleich ein Palindrom ist: «In girum imus nocte / et consumimur igni» (Im Kreise geh’n wir nachts / und werden vom Feuer verzehrt).

Felix Epper «Nachtwind, ge­zuernt / Dichten unter Zwang» Edition la meuth, Bischofszell 2020 32. S. ISBN 978-3-033-07539-9 Fr. 19.– bei www.felu.ch . Max Christian Graeff (Hsgr.): Die Welt hinter den Wörtern, Verlag Martin Wallimann, Alpnach 2004, 240 S., Fr. 36.50.

Ein Meister der Buchstabenakrobatik – Artikel als pdf

 

 

 

Trugwesen unterwegs

Anagramm-Kalender
Die Anagramm-Agentur, ein loser Zusammenschluss von Menschen, die sich mit Leib und Seele dem Vertauschen von Buchstaben verschrieben haben, legt mit diesem ›immerwährenden Kalender‹ einen erstaunlichen, amüsanten und nicht zuletzt literarischen Spaziergang durch das Kalenderjahr vor. Er führt vorbei an allerhand Grössen der Weltgeschichte, passiert manch skurrilen Gedenktag und endet am 31. Dezember mit einem anagrammatischen FREUDEN / RUF: ENDE!
PS. Wenn alles geklappt hat, schreibt Epper zum Bloom’s Day (16. Juni).

https://edition8.ch/buch/trugwesen-unterwegs

Abécedaire I

Abécedaire
Franz Kafka mit seiner jüngeren Schwester Ottla

Genug der Palindrome? Warum nicht mal ein «Abécédaire» schreiben? Ein «Abécédaire» hangelt sich von a bis z durchs Alphabet. Flott malen wir uns z. B. Gregor Samsa aus.
Die Tücken stellen sich aber immer beim Buchstaben «Q» und Kafka gerät in Moby Dicks und Herman Melvilles Fahrwasser, schlittert bei Y knapp am zu banalen Yeti vorbei, um sich kurz vor Schluss von der Mutter aller Kreaturen, der peruanischen Schlange Yokumama, verschlingen zu lassen. Der hebräische Riese Zamzummim schaut derweil dem Scheitern gelassen zu.

Neuerscheinung

Rêver — Palindrome von Felix Epper

Ende Juni 2021 erscheinen meine gesammelten Palindrome. Das Büchlein im CD-Booklet-Format (10 x 10 cm) kann ab sofort bestellt werden. 36 Seiten, geheftet, Vierfarbendruck. EUR / CHF 7.00 / Im Bundle zusammen mit meinem Anagrammbuch «Nachtwind gezuernt» Solothurn 2020 – EUR / CHF 19.00

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Jules Verne

Rätsel: Bringe das Palindrom in die richtige Reihenfolge! Das Bild zeigt die Verhaftung Phileas Foggs durch den Kommissar Fix (Jules Verne: Reise um die Erde in 80 Tagen). PS: Ich bitte, Grammatik- und andere Fehler zu entschuldigen.

Made with Remarkable – E-Ink-Note-Taking and Drawing-Device

der eine insel traeumet…

der eine insel ein palindrom der eine insel traeumet si elle ob se leve siam cat? ob móloc? remo ob. cit. tic! boomer! colombo, tac! mais eve lesbo elle ist émue art les nie nie red eppe r eppe 20 20Zum Hören:

* * *

Zum Verständnis des Textes:

Ein Palindrom lässt sich vorwärts und rückwärts lesen.

se lever (französisch) = aufstehen, sich erheben etc.

ob. cit. (lat. opere citato) = im angeführten Werk.

móloc (spanisch) = Kartoffelbrei

ému (französisch) = bewegt, ergriffen

art (französisch) = Kunst

Jetzt erschienen: Anagramme und andere kleine Poesie

Nachtwind, gezuernt. Dichten unter Zwang
Allerlei Anagramme und andere kleine Poesie von Felix Epper

Allerlei Anagramme und andere kleine Poesie erwarten Sie in diesem luftigen Büchlein. Doch trauen Sie den Tiefstapeleien nicht. In Eppers mäandernde Wortkunststücken wird das literarische Kulturerbe radikal auseinander genommen und sprachschöpferisch neu aufgebaut. Statt in den «Bichtstuel» hüpft das verliebte Paar «it Bluescht». «Rohkost lagert Anmut», wenn in «Solothurn Markttage sind, und alt Nationalrat «Moergeli» muss «me go lire». Das «Dichten unter Zwang» gebiert heftigen «Nachtwind, gezuernt» und vielleicht – wer weiss? – taucht so auch die grosse Meisterin des Anagramms Unica Zürn in Eppers Anagrammen auf. Das dunkle Palindrom, welches das Buch beschliesst, ist eine Verneigung vor ihr.

Bleisatz im Typorama Bischofszell

Nachtwind, gezuernt. Dichten unter Zwang
Allerlei Anagramme und andere kleine Poesie von Felix Epper
32 Seiten, fadengebunden
Edition «la meuth» Solothurn
ISBN 978-3-033-07539-9
CHF/EUR 19.00
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Lesen Sie zeitgenössische Literatur auf Ihrem eBook-Reader. Ich empfehle etwa ein Gerät von Pocket-Book, gekauft in der lokalen Buchhandlung. Ich bin nicht wirklich ein Freund von Amazon und dem Kindle, mag aber die Hausschrift Bookerly sehr. Man kann sie auf jedem Reader einsetzen. Download hier.

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Hier drei Kurzgeschichten von Felix Epper:

Fliegenfänger. Erzählung
(Format epub)

Ein böser Traum.
Erzählung in drei Kapiteln (Format epub)

Florida
Kleine Erzählung von Felix Epper (Format ePub)


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Bücher

  Sprung auf die Plattform, nagel & Kimche, 1998, vergriffen

In Gonten, im Appenzellischen, habe ich immer den Gemischtwarenladen mit diesem schlichten hölzernen Schild bewundert. «Handlung» stand darauf.

Nun masse ich mir ganz und gar nicht an, eine Buchhandlung zu sein (mit so wenigen Büchern in der Auswahl) – eine Handlung bin ich aber mit Überzeugung.

Decken Sie sich mit schönen Büchern zu oder ein!

 

Erhältlich sind:

Felix Epper: Nachtwind, gezuernt. Dichten unter Zwang
Allerlei Anagramme und andere kleine Poesie von Felix Epper
32 Seiten, fadengebunden
Edition «la meuth» Solothurn, 2020
ISBN 978-3-033-07539-9
CHF/EUR 19.00

Felix Epper, Erich Keller: Frankie klingeling/teenage blue, 1995, Layrinth Verlag Trogen. CHF 22.– /

Monika Burri, Felix Epper et al: Schnell gehen auf Schnee: Rotpunktverlag Zürich 1998, CHF 30.– (Kurzgeschichten von sieben AutorInnen)

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Schreiben am Jurasüdfuss

Eine Spurensuche.

Kaum eine Schweizer Landschaft ist derart Literatur geworden wie die Gegend zwischen dem Bielersee und der Eisenbahnerstadt Olten. Der Schriftsteller und Verleger Otto F. Walter hat den Begriff «Jurasüdfuss», als den Ort einer Literatur vom Rande her, begründet. Schon in seinem Erstling «Der Stumme» (1959) erfindet er Jammers, einen fiktiven Ort, wirklicher als die Wirklichkeit. Auch Peter Bichsel und Gerhard Meier sind keine Dokumentaristen, ihre Arbeit gilt in erster Linie der Sprache. Aber kann man sie sich anderswo als in Olten, Solothurn oder Niederbipp, diesem «Zentrum der Welt», wie Meier immer wieder schreibt, vorstellen? Eine – nicht nur in der Auswahl der Autoren – höchst subjektive Gedankenreise auf Papier von Felix Epper, Schriftsteller und Wahlsolothurner, die vielleicht Lust auf literarische (Wieder)Entdeckungen macht.

I
In Solothurn kam ich lesend an. Immer lesend. Die Eisenbahnfahrten von Gossau oder Zürich nach Genf und zurück reichten gut für ein Buch. Fast jede Woche zweimal dem Jura entlang auf der Durchreise den Flüssen und langgezogenen Seen – die für mich etwas Urzeitliches oder Schottisches hatten – entgegen- und darüber hinaussehnend. Vor allem bei sogenannt schlechtem Wetter vernebelte es einem die Sicht: alles mögliche Getier konnte sich nun aus den Fluten schlängeln. Aber sanft ronnen die Wassertropfen auf den Scheiben der zweiten Klasse. Ausgestiegen bin ich nie in Solothurn – jahrelang hielt ich es so. Was sollte ich auch? Meine Liebe war in Genf. Ich wusste: Peter Bichsel stand mit dem Kursbuch in der Hand am Perron 1 des Bahnhofs Solothurn. Es genügte zu wissen: Mit abgewetztem Jackett und wilder Mähne spielte er den «Mann mit dem Gedächtnis». So erinnere ich mich heute, wie ich mich damals an den Umschlag der «Kindergeschichten» erinnerte, wenn mein Zug in Solothurn hielt. Es soll Leute geben, die aus dem Ausland anreisen, um Bichsel am Stammtisch seiner Lieblingskneipe vor einem Glas Rotwein anzutreffen. Das mag wahr sein.

Zufälligkeit des Ortes: «Heimat ist hier dasselbe wie bei uns, das ist schön», schrieb Bichsel einmal nach einem Besuch an einem Ort irgendwo auf der Welt. Wenn eine Liebe zerbricht – wie meine Liebe in Genf nach hundert Büchern und Bahnfahrten zerbrochen ist – ist man überall gleich heimatlos. Besonders schmerzvoll: das Unterwegssein und das Alleinsein unter Menschen. Nur mehr Sackgassen und kein Halt mehr für zwei Minuten in Solothurn. Alles wieder lernen und vielleicht neu ankommen. Vielleicht in Solothurn. Vielleicht in Solothurn bleiben.

II
Wer ist nicht mit Bichsels Geschichten gross geworden? Ich erinnere mich: Es brauchte zuerst Überwindung, die Exlibris-Ausgabe der «Kindergeschichten» (1969) in die Hand zu nehmen mit vierzehn. Man war ja kein Kind mehr, glaubte den Titel wortwörtlich verstehen zu müssen, hatte 50 Bände Jules Verne ausgelesen, las nun, was im Bücherschrank der Eltern stand. Vor allem Buchclub-Ausgaben: Nebst Trivialem auch Alfred Andersch oder Patricia Highsmith. Günter Grass’ «Butt» und John Steinbecks «East of Eden» verstörten den Pubertierenden: glühende Nadeln durch Brustwarzen gestossen in den kalifornischen Freudenhäusern. Möglich, dass sie nicht glühend sind bei einer erneutem Lektüre, aber noch immer ist dieses Brennen untrennbar mit dem Buch und der Zeit verbunden. «Lesen ist subversiv», sollte ich später bei Bichsel, dem gescheiterten Fussballer nachlesen. Es mache einen untauglich für den Alltag. Er hatte recht.

Die «Kindergeschichten» las ich dann doch. Ich bekam sie zusammen mit Bichsels Erstling, «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» (1964) vom Vater eines Freundes geschenkt. Jener war Chefredaktor grosser Zeitungen gewesen und deshalb ein verlässlicher Ratgeber, was Literatur angeht. Bichsel war kein Kinderbuchautor. Es kam mir auch ein Aufsatz Bichsels in die Finger, der von ersten Lektüreerfahrungen berichtete und ich fing wieder Feuer, kramte wie mit acht Jahren auf dem elterlichen Estrich in den schmutziggrünen Schachteln mit fingerdickem Staub und fand zum Beispiel die kleine Bibel in Fraktur und eine noch kleinere Weltgeschichte aus dem 19. Jahrhundert. Beide Bücher begannen vor wenigen Tausend Jahren mit Adam und Eva ¬– Gott in seiner Allmacht faltete persönlich die verschiedenen Juraketten und lenkte die Aare in ihre Bahn. Diese Geschichten waren dem Kind, das eben erst die Buchstaben gelernt hatte, genauso wirklich wie die Griechischen Mythen oder die Tafel mit den Fabelwesen aus dem Lexikon, das ich auch noch nach dem tausendsten Male gebannt aufschlug. Angst machte vor allem der Lindwurm, der sich nachts am Brunnen vor dem Tore versteckte. Und ich träumt’ in seinem Schatten gar manchen bösen Traum. Ich verbannte den Lindwurm später in den Toteissee (auch den fand ich im Lexikon). Schutt lagert sich ab auf einem verlorenem Stück Gletschereis und immer wieder wird die Weltgeschichte aufgeführt, bis das Eis geschmolzen, der Schutt abgesunken und sich der See gebildet hat. Der Burgäschisee ist ein Toteissee. In Bichsels Geschichten heissen Seen meist Seen und Kneipen Kneipen, der Weissenstein ist der Berg, «Amerika gibt es nicht» und «Ein Tisch ist ein Tisch».

Die erste Begegnung mit Bichsel muss früher gewesen sein. Es war in der fünften oder sechsten Klasse, als wir «Ein Tisch ist ein Tisch» gelesen haben. Doch zu dieser Zeit schwieg man, wenn Begeisterung aufkam beim Lesen oder Zuhören. Ich war nicht der letzte auf der Bank, wenn die Kapitäne die Fussballmannschaften zusammenstellten, und ich wollte es bleiben. Das war Verrat an unserer Lehrerin. Wie konnte man ihr nicht danken für Tetzners «Schwarze Brüder», für Borcherts «Küchenuhr» und für Brechts «Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration»?

Als ich die «Milchmann-Geschichten» gestern wieder las – viel zu schnell, immer viel zu schnell – schien sich ein Nebel zu senken, unendliche Traurigkeit bemächtigte sich meiner und ich erinnerte mich an die Sonnenstrahlen im Schulzimmer der fünften oder sechsten Klasse, wenn Frau Cao mit ihrem wunderbaren bündnerisch gefärbten Hochdeutsch vorlas. Auch bilde ich mir ein, ich hätte Spuren von Tränen in ihrem Gesicht gesehen. Bichsel spricht in einem Aufsatz vom «süssen Gift der Buchstaben», Lesen ist für ihn eine Droge, Leseförderungsmassnahmen in Schulen seien deshalb höchst fragwürdig. Er hat Recht. 19 von 20 Schülern verstehen kein Wort und einer verliebt sich wegen Brecht oder Bichsel. Das konnte nicht gut kommen.

Es kam nicht gut, und so kommen wir ¬– immer noch im sanktgallischen Gossau – auf Gerhard Meier, der erst spät, nach Jahrzehnten Arbeit in einer Lampenfabrik, sich Zeit zum Schreiben nehmen konnte. Es war der Titel des Romans «Toteninsel», der mich auf Meier aufmerksam machte. Die Reproduktion von Böcklins Gemälde an der Wand in Grossvaters Mal- und Zeichenzimmer mochte schlecht sein, ein Kind noch nichts begreifen von Allegorien. Aber man sah: die Überfahrt im Kahn führte in ein wundersames Dunkel, das nicht nur Nacht und Ende war. In Grossvaters kleinem gelbem Renault war man sicher und im Wald erklärte er uns die Pilze. Reizker und Stäubling, Maronenröhrling und Hallimasch.

Gleich nach dem Abschied von der Primarschule und mit der Pubertät gerieten meine Knie aus dem Leim und die verordnete Ruhe wurde mir zur Verdammnis. Einen Sommer lang lag ich still im abgedunkeltem Zimmer – natürlich muss hier alles Körperliche übertrieben werden, um nicht 1000 Worte über eine verletzte Seele schreiben zu müssen. Nichts schmeckte mehr, am wenigsten Bücher. Und die Waldgänge zu Grossvaters Pilzen waren auf einmal schal geworden, die «Toteninsel» im Mal- und Zeichenzimmer verblich. Kurz darauf sind auch die Ölfarben auf dem Pult eingetrocknet und die Bleistiftskizzen auf der Leinwand waren fortan nurmehr Schatten einer vergangenen Zeit. Ich hatte Grossvater nicht mehr oft besucht in diesen Tagen und fühlte mich auf eine Art schuldig an seinem Schlaganfall. Alle Verwandten und Freunde sprachen von einem «Schlägli». Ich hasste dieses Wort, das Schmerz und Trauer und vor allem den Tod verhöhnte. Wenn ich an den grossen Niederbipper Schriftsteller Gerhard Meier denke, sehe ich immer meine Grossväter wandern und ich stelle mir mich selbst als alten Mann vor. Wenn ich «Ob die Granatbäume blühen» (2005)– Meiers Vermächtnis an seine Frau Dorli – lese, kommt es mir vor, ich kennte ihn schon immer. Es scheint mir dann, es wäre sogar möglich wieder eine Religion zu finden.

Das «Schlägli» lähmte meinen Grossvater nur eine Körperhälfte, sein Verstand wäre noch da gewesen und ich alt genug für eine Zwiesprache über die Lebenskunst. In Gerhard Meiers Büchern sprechen die Geister, die toten Freunde erinnern die Überlebenden an die Wortwechsel vor Jahrzehnten, die Kirschbäume blühen; die Spaziergänge von früher werden wieder und wieder abgeschritten, an der Aare, in Gedanken und auf Papier. Prousts, Tolstojs und Robert Walsers Geister wandern mit. Und auf den Wegen am Jurasüdfuss erscheinen im Sonnenlicht immer und immer wieder die Birken aus den russischen Weiten. «Die Welt existiert erst, wenn sie formuliert, in Sprache gefasst, vorliegt», schreibt Meier im Roman. «Land der Winde» (1990).

Robert Walser war um die Jahrhundertwende (1899 bis 1900) übrigens auch in Solothurn, als Angestellter der Solothurner Hilfskasse. Die erste Gedenktafel für Walser ist nicht in Berlin, Zürich, Bern oder Herisau angebracht worden, wo er weit mehr Furore machte, sondern an der Gurzelngasse 16. Für mich ein schwerwiegender Grund, Solothurn zu lieben. Walser liebte abrupte Überleitungen, und wir müssen jetzt überleiten, nämlich zu Otto F. Walter.

«Die Rache / Der Sprache / Ist das Gedicht.» Natürlich ist auch dieses Gedicht von einem «Jurasüdfuss-Autor», nämlich vom Österreicher Ernst Jandl. Jandls skandalumwitterter Lyrikband «Laut und Luise» erschien 1966 im Walter-Verlag, Olten. Er begründete Jandls Ruhm, führte aber auch zu Otto F. Walters Rauswurf aus dem Verlag, der seinen Namen trug, in dem er als Herausgeber des literarischen Programms aber faktisch keine Macht hatte.

III

«Die ersten Sätze eines Buches sind für den, der sie schreibt, vergleichbar mit den ersten Schritten eines Mannes in ein sehr weit sich dehnendes Waldgebiet. […] auf seinem Gang ins Weglose trifft der Waldgänger gelegentlich auf die Fährte eines anderen.»

Otto F. Walter hat nach seinen frühen beiden Romanen «Der Stumme» und «Herr Tourel» (1962) vor allem als Verleger gewirkt. Er landete 1964 einen Sensationserfolg mit Peter Bichsels «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» und machte den Walter-Verlag zu einer der ersten Adressen deutschsprachiger Autoren der Moderne (darunter die Schweizer Jörg Steiner, Kurt Marti und Ludwig Hohl). Er wechselte 1966 nach seinem Rauswurf zum Luchterhand-Verlag. In den 70er-Jahren widmete er sich dann ganz dem Schreiben. 1998 erschien von Martin Zingg ein wunderbares Buch mit Gesprächen, «Otto F. Walter über die Kunst, die Mühe und das Vergnügen, Bücher zu machen». Vier Jahre nach Otto F. Walters Tod, schrieb Zingg im Vorwort, sei dessen Verlegertätigkeit weitgehend vergessen. Walter werde nur noch Schriftsteller wahrgenommen. Nochmals sieben Jahre später blättert man das vollständige Verlagprogramm des Rowohlt-Verlags durch und findet gerade noch zwei Bücher von Otto F. Walter. Wie sein in schwieriger langer Freundschaft verbundener – und auch politisch ebenso engagierter – Widersacher Niklaus Meienberg scheint Walter ein Autor einer vergangenen Epoche geworden zu sein. Wer das Glück hat, Walter wieder zu lesen, findet das unverständlich. In jedem Werk wird wieder neu mit Sprache experimentiert. (Sehr gewagt in «Die ersten Unruhen» von 1972, wo Walter versuchte ohne Hauptpersonen auszukommen und einen Roman aus allen möglichen Genres von Textensorten montiert.)

Otto F. Walter war ein grosser Vermittler von Literatur; er hat immer wieder diese Fährten aufgezeigt, nun ist er selbst ein wieder neu zu entdeckender Waldgänger nicht nur als Schriftsteller oder Verleger, sondern auch als Vordenker einer anderen Welt. Schon in den 50er Jahren engagierte er sich (nota bene als einziger Offizier der Schweizer Armee) in der Anti-Atom-Bewegung. Und er war einer der wenigen wirklich politischen Schriftsteller der Schweiz. Seine Romane aus den siebziger Jahren sollten Möglichkeiten eines anderen Lebens aufzeigen. In der «Verwilderung» versuchen junge Leute, eine Wohn- und Produktionskooperative als Keimzelle einer befreiten Gesellschaft zu errichten. «Die Verwilderung» wird – zusammen mit Rolf Niederhausers dokumentarischen Roman «Das Ende der blossen Vermutung» über die Anfänge der Genossenschaft Kreuz Solothurn, der zur selben Zeit herauskam –, vielleicht in einigen Jahren oder Jahrzehnten wieder von jungen Leuten gelesen, die ihre ganz eigenen Ideen und ein neues politisches Engagement daraus ziehen werden.

Walter ist – ohne dass ich ihn persönlich kennengelernt hätte – eng mit meiner politischen Biographie verknüpft, die im Nachhinein betrachtet zwischen den Stühlen verlief. Nach Kaiseraugst und den Jugendunruhen war in den späten 80er-Jahren eigentlich Entpolitisierung angesagt. Wir damals Engagierten haben das Scheitern der Utopien von Selbstverwaltung und der ökologischen Bewegung immer schon mitgedacht in unserem Tun. Diese wunderbare romantische Anmassung der Idee, die Armee abzuschaffen! Noch einmal gewaltfreien Widerstand leisten gegen einen sinnlosen Waffenplatz!

Otto F. Walter war einer, der sehr viel später als zum Beispiel Max Frisch die Grenzen der Möglichkeiten der Literatur, politisch Einfluss zu nehmen, gesehen hat. Jedes seiner Bücher ist ein neues Wagnis und einzigartig in Form und Inhalt und widerspiegelt die Zeit. So scheint es folgerichtig, dass Walter nach dem weit ausholenden Gesellschaftsroman «Zeit des Fasans» (1988) in seinem letzten Buch «Die verlorene Geschichte» (1993) wieder eine ganz neue, vermeintlich einfache Sprache und das einfachste, schwierigste Thema überhaupt, die Liebe, findet.

Ebenso berührend wie beängstigend ist «Die verlorene Geschichte». Dem Eisenleger Paul «Polo» Ferro, der am Schluss nur töten kann, wen er liebt, gibt Walter eine Stimme, eine Sprache, nahe am inneren Monolog, verstückelt und gewalttätig, atemlos und zärtlich. Und wieder wie in fast allen Büchern Walters spielt diese verlorene Geschichte an der Aare. An der Aare, die zum Mekong wird, der den Jurasüdfuss entlang fliesst. Weil es die Liebe zum Mädchen Thai ist, die Polo verwandelt, verwandelt und verzaubert sich auch die Welt und wenn es nur für Augenblicke ist…

Erschienen Dezember 2005 in: Leben am Jurasüdfuss, herausgegeben von Daniel Gaberell, gab-Verlag, Bern.

Ein Fall von Missbrauch

Befremden: Alt Bundesrat der rechtsnationalen SVP trifft auf Schriftsteller mit Drogen- und Anstaltsvergangenheit. Felix Epper berichtet darüber in der Zürcher WochenZeitung.

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Gebrochen fröhlich

Text zum 70. Geburtstag Bob Dylans, erschienen in der «Musikzeitung Loop», Zürich Mai 2011

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Als meine Mutter im Sterben lag, fuhr ich jeden dritten Tag oder so am Morgen stundenlang Zug Richtung Osten und am Abend denselben Weg wieder zurück. Auf der Intensivstation des Spitals nahm ich jedes Mal stumm Abschied. Nur eine Frage der Zeit, bis die Nacht hereinbricht. Und nie wusste ich, ob sie noch verstehen konnte, was ich sagte… Ich hörte damals viel Radio auf meinen Wegen. Dylans “Theme Time Radio Hour” schien mir der richtige Trost: Nicht Ablenkung, sondern Tiefe. Dylan spielte seine meist obskuren Schallplatten und erzählte kurze Geschichten über die Bibel, das Rauchen, Schuhe, Amerika, das Zugfahren – das Trinken. Am liebsten ist mir auch jetzt noch die Show über das Trinken (u. a. mit herzergreifenden Liedern von Charles Aznavour und Mary Gauthier). Mama wüsste wieso. Inmitten der Lieder eine mit allen Wassern und Wässerchen gewaschene Stimme, ebenso fröhlich wie gebrochen, ebenso alt wie jung, die nur zu mir zu sprechen schien. Eine Anmassung, die ich mir gerne und unter Tränen erlaubte.
Aus “Chronicles” und Martin Scorseses Film “No Direction Home” wissen wir, wie wichtig das Radio für den jungen Bob Dylan gewesen ist, der die Musik, die er hörte, wie ein Schwamm aufgesogen hat. Natürlich hat es eine höchst ironische Note, dass uns Dylan mit seinen durchchoreographierten Radioshows eine vergangene Welt und Produktionstechnik vorgaukelt. Doch die Trauer über den Verlust einer wohl auch nur vorgestellten Ursprünglichkeit und Authentizität ist ein steter, leiser Unterton. War es aber mit seinen eigenen Songs je anders, die er 2001 in einem wunderbaren Spätwerk ganz offiziell unter das Motto “Love And Theft”, Liebe und Diebstahl, gestellt hat? Dylan ist ein Künstler, der durch keine kritische Analyse entzaubert werden kann, weil sein Werk von Anfang an als Synthese gedacht war. Ausser wir fragen den Mann auf der Strasse, welcher anstelle einer Antwort die Lippen hochziehen und näselnd “The answer my friend is blowing in the wind” singen wird. Honni soit qui mal y pense.
Allen noch nicht hartgesottenen Dylanhörern empfehle ich meine momentane Lieblingsplatte, die “Tell Ol‘ Bill Sessions” (Bootleg, 2005), auf der die Genese eines Songs – und was für ein Song! – wunderbar mitverfolgt werden kann und bei deren Hören ich mir immer wünsche, nicht nur schreiben, sondern auch spielen zu können.

Felix Epper, April 2011
Homepage Musikzeitung Loop

«Solange ich verletzlich bleibe, kann ich weiterschreiben.»

Sie hat eben ihren ersten Roman veröffentlicht, ist aber schon seit fünfzehn Jahren im Geschäft. Eine Begegnung mit der Zürcher Schriftstellerin Aglaja Veteranyi.

Vorbemerkung: 05.02.02. Aglaja Veteranyi ist tot. Wenig ist heute zu sagen: Ich bin sehr traurig. Ich habe Aglajya nur wenige Mal getroffen und war bewegt über ihre Herzlichkeit, Offenheit und – ich wage es hier kaum mehr zu schreiben – Lebensfreude. Das Gespräch mit Aglaja Veteranyi habe ich vor ziemlich genau zwei Jahren für die Monatszeitung «Toaster» geführt.

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Es ist zwei Uhr Nachmittags. Langsam verebben die Geräusche in der Kronenhalle am Zürcher Bellevue; die letzten Wagen mit Essen werden zu den Gästen geschoben; ganze Heerscharen von Kellnern huschen vorbei; am Tisch nebenan wählt der Mann von Welt eine Zigarre; der Rauch steigt auf an den Gemälden der alten Meister vorbei zur hohen Decke. Und alles ist ein wenig alt und gelb – die Patina vergangener Zeiten, als Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt um die Wette schmauchten, hat sich hier festgesetzt. Die Schriftstellerin und Schauspielerin Aglaja Veteranyi liebt diesen Ort, und wer ihr zuhört, merkt, wie sich der Raum verwandelt, sich mit ihren Worten füllt, wenn sie über ihren ersten Roman «Warum das Kind in der Polenta kocht», über Tod und Leben und die Leidenschaft des Schreibens spricht.

Im Buch, erschienen diesen Sommer, wird die Geschichte einer Familie erzählt, die aus Rumänien in den Westen flieht, dort aber fremd bleibt und auseinanderbricht. Geschildert wird das Leben in der Zirkusmanege, in Hotels, Heimen und billigen Varietés aus der Sicht eines Kindes. «Ich konnte nur so und nicht anders schreiben. Nur aus der Perspektive des Kindes heraus, war ich fähig, all das Grausame, Unmoralische dieser Geschichte zu erzählen.» Allgegenwärtig ist der Tod. Die Mutter hängt in der Kuppel des Zirkus an den Haaren, und um das kleine Mädchen zu beruhigen erzählt die grosse Schwester die Geschichte vom Kind, das in der Polenta kocht. «Viele Leute und auch ein Teil der Medien erwarten vom Buch, dass sie mitgenommen werden in eine nostalgische Zirkuswelt. Wer das Buch liest, wird aber sofort merken, dass das mit der Realität nichts zu tun hat.» Sterben, Erfahrung der Fremde und Abschied sind die Themen, die Veteranyi in wunderbar präzisen, meist sehr kurzen Sätzen in Sprache gefasst hat. Bei Lesungen im Ausland lobe man die Leichtigkeit der Form, sagt sie. In Deutschland und der Schweiz begegne man dem knappen Stil mitunter mit Misstrauen. Man sieht den einfachen Sätze die Arbeit, die darin steckt nicht gleich an.

Ausbruch aus der geistigen Öde
Ich komme auf die vielen grausamen Szenen im Roman zu sprechen. Im Kinderheim muss aus Strafe das Erbrochene mit aufgegessen werden. Im Varieté wird dem Mädchen, weil es noch zu jung ist, um nackt aufzutreten ein behaartes Dreieck zwischen die Beine geklebt, gleichzeitig aber wacht die Mutter mit Argusaugen über dem Kind. Für Aglaja Veteranyi ist der gegen die Mutter gerichtete Wunsch – «Mich hat noch nie ein Mann am richtigen Ort berührt. Ich denke an nichts anderes. Ich will von zweien gleichzeitig vergewaltigt werden.» – so schockierend er auch tönt, etwas Befreiendes. Die Oberfläche einer scheinheiligen Welt bekommt Risse. Verdrängtes, wie das Verhältnis des Vaters mit der Schwester kommt zum Vorschein. «Wir stehen täglich vor der Wahl, Opfer oder Täter zu sein», zitiert Veteranyi einen Satz von Hilde Domin. «Das Mädchen, die junge Frau versucht sich aus dem primitiven Verhalten der Familie, die sich immer nur als Opfer der Verhältnisse wahrnimmt und in einer geistigen Öde lebt, auszubrechen.» In den vielen Deutungen der Geschichte des Kindes, das in der Polenta kocht, wechseln Opfer- und Täterrolle. Veteranyi betont denn auch das Parabel-, Gleichnishafte nicht nur dieser Geschichte, sondern des ganzen Romans. Soviel die Schriftstellerin auch über ihren Roman zu erzählen weiss, die Faszination bleibt ungebrochen, da wird nichts zerredet oder zu Tode erklärt, weil man stets die Präsenz und das Engagement dieser Frau hinter dem Text spürt.
In Diskussionen wird Veteranyi immer wieder mit der Frage nach dem Autobiografischen im Text konfrontiert. «Der Maler Henri Matisse sagte einmal ’Genauigkeit ist nicht Wahrheit.’ Der Roman ist nicht meine Lebensgeschichte; ich muss mir beim Schreiben jede Freiheit nehmen und sprachlich so präzis wie möglich sein. » Veteranyi hat sich in den fünfzehn Jahren, in denen sie schreibt, immer wieder mit dem Stoff, der nun ihr erstes Buch geworden ist, beschäftigt. Der Verlag und die Autorengruppe «Netz» haben ihr geholfen, die richtige sprachliche Form zu finden. Angst, das nun das Etikett «Zirkusroman» an ihr kleben bleibt, hat sie nicht. Ganz anders werde ihr neues Buch, und Schreiben sei für sie, die vor dem Roman schon eine grosse Zahl von Kurzgeschichten veröffentlicht hat, eine – mit zunehmend mehr Freude als Qual verbundene – alltägliche Arbeit: «Solange ich verletzlich bleibe, kann ich weiterschreiben.»

Aglaja Veteranyi, Warum das Kind in der Polenta kocht. Roman, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1999, 190 Seiten, sFr. 27.50

Wienacht

1956
1956

Der Schriftsteller war zu frühem Ruhm gekommen und verkümmerte nun durch die Jahre. Man stelle sich die mittleren Jahrzehnte eines Jahrhunderts vor: Da saß es sich noch an schweren, hölzernen Tischen. Über Schnee schrieb er nur, wenn’s schneite, und wenn die Zeitungsredaktoren etwas von ihm einforderten, dann eine Geschichte mit Gemüt. Am besten eine Weihnachtsgeschichte. Der Schriftsteller hatte kein Gemüt, dachte an Bruder und Mutter – die in die Anstalt gekommen oder einen Strick sich um den Hals gelegt – und suchte dann auf dem Papier den Weg nach Wienacht Tobel. Im Appenzellischen soll’s dieses Wienacht geben, dessen Hänge man sommers wie winters begehen konnte. Der Schriftsteller war niemals da gewesen, vermutete aber auch im Sommer ewigen Schnee. Wie in der Wüste, so ist es auch dort in der Nacht bitter kalt, und wo’s nur Hänge gibt, da herrscht die wüstene ewige Nacht des Eises. Der Schriftsteller ließ nun seinen Jesus in die Wüste zurückgehen, wo er geboren worden war. Es war heiß und kalt, und auch der Teufel war einst aus einem Schoß gekrochen und des Versuchens eigentlich müde. So froren und schwitzten sie zusammen: Jesus und der Teufel. Liefen in den Wüstensandsturm, der sie wie Schneetreiben umgab, und tatsächlich ging in Wienacht roter Schnee nieder, den die Lüfte aus Nordafrika hergetragen hatten. Roter Saharasand, Worte wie diese strich sich der Schriftsteller in seinem Tagblatt an; war es heute gewesen oder vor Tagen, Jahren? Wienacht schien ihm schon eine Geschichte in einem Wort. Lieber Herr Verleger, frage ich Sie höflichst an, ob Sie sich mit dem schönsten aller Ortsnamen – wenigstens zu diesem Zwecke – zufriedengeben könnten. Ich begehre auch nicht, der Erfinder zu sein. Man möge mich auch nur für den Weißraum bezahlen: Eine solche Seite stelle ich mir hübsch vor. Denken Sie nun nicht, dieses Weiß sei billig erkauft, geradezu ergaunert! Nur schon diese Leere fertig zu denken – – – aber wie Sie sehen, finde ich mitten im Satz zu ihrer – trotz alledem – geschätzten abschlägigen Antwort, der ich natürlich wie einem Befehl Folge leiste. Ich freue mich darüber, daß Sie mich anspornen, diese Leere zu füllen, auf daß sie dann den Lesern aufs Trefflichste munde. Aber ist nicht jeder andere Christbaumschmuck als Schnee eine Sünde? Und nicht ein Automobil etwa gerade in der Weihnachtszeit ein Verbrechen? Nun, darum stelle ich mir Wienacht so einsam, so waldverloren wie möglich vor. Heftigste rote Sahara-Schneefälle schneiden das Dorf von der Außenwelt – dem Leben selbst – ab. Die Menschen – – – vereisen. Zwischen ihren ausgebreiteten Fingern bilden sich gefrorene Schwimmhäute. Haare und hoffentlich Bärte werden zu wilden Büschen. Wienacht eine einzige Wüste. Ein rotes Weiß, ein weißes Rot. Schneeblumen wie um Dornröschens Schloß. Rote weiße Rosen, Eiszapfen spitz wie Dornen, die Wasserfälle vereist, die Herzen frisch wie nie zuvor. – – – Der Schriftsteller wünschte sich zuweilen einen Ofen ins Zimmer, um die Finger geschmeidiger halten zu können. Denn warm und satt, das müssen die Finger sein, wenn sie über Weihnachten schreiben, die Geschichte fließt dann förmlich aus den Fingerspitzen heraus: Soviel Bürgerlichkeit, Güte, Liebe und Essen an einem Tag! Der Schriftsteller soll, so spukt es mir heute morgen, seine Geschichten auch nach dem Verstummen im Jahre 1933 nicht nur weiter im Kopfe herumgetragen, sondern immer noch auf kleinen Papierstreifen notiert haben…

Robert Walser starb am Weihnachtstag 1956 – also vor vierzig Jahren – auf einer Anhöhe ob Herisau.

Den Kopf aufs Pflaster schlagen

Hundert Jahre Brecht und regelmässig volles Haus bei Benno Bessons Inszenierung von «Die heilige Johanna der Schlachthöfe». Wie geht man um in Zürich mit diesem marxistischen Stück um Armut und Ausbeutung, Widerstand und der Nutzbarmachunng einer Revolutionärin zur Besänftigung der Massen?

«Als ich ‹Das Kapital› von Marx las, verstand ich meine Stücke.»
B.B. 1928.

«Es hilf nur Gewalt wo Gewalt herrscht»
Programmheft Bertolt Brecht DIE HEILIGE JOHANNA DER SCHLACHTHÖFE Premiere 28. Februar 1998

Brecht schrieb – unterstützt von seinen «Mitarbeitern», u.a. Elisabeth Hauptmann – die «Johanna» in den Jahren 1929/30. Die Erfahrung des Crashs in New York veranlasste Brecht, Studien an den Börsen Berlins und Wiens zu betreiben. Anders als die vorangegangenen Arbeiten, etwa die «Jasager» oder die «Massnahme» ist die «Heilige Johanna kein abstraktes Lehrstück. Aber natürlich ist eine Menge von Brechts Marxlektüre auch in diesem Stück aufgegangen. Die Geschichte der Heilsarmistin Johanna Dark, die der «Armen Armut» kennenlernt und sich zur proletarischen Agiatorin wandelt und des Fleischkönigs Mauler mit den «zwei Seelen in seiner Brust» verblüfft auch heute noch. Keine widerspruchsfreie Welt, und keine einfache Wahrheit zeigt uns Brecht. Die Figur des Mauler wird in ihrer ganzen Dialektik von Profitgier und Mitgefühl – das eine gibt’s nicht ohne das andere – in aller Pracht enfaltet. Die an Goethe und Schiller angelehnte Sprache überzeugt durch ihren Witz und entstellt die Figuren bis zur Kenntlichkeit. Verhandelt werden menschliche Schicksale – die aber beispielhaft für ein Allgemeines stehen. «Die heilige Johanna der Schlachthöfe» fand in Deutschland – wen verwundert’s – keinen guten Boden. Nach einer einmaligen Sendung einer Hörspielfassung im Berliner Rundfunk dauerte es 30 Jahre bis zur ersten Bühneaufführung. In den letzten Jahren der Weimarer Republik prallten die gesellschaftlichen und politischen Gegensätze auch in der Kulturwelt mit aller Wucht aufeinander. In Erfurt etwa unterbrach die Polizei eine Aufführung der «Massnahme» und machte dem Veranstalter einen Hochverratsprozess. Noch haben die Faschisten die Macht nicht ergriffen, doch der Kampf wird schon auf offener Strasse ausgetragen. Denoch erstaunt – und erschüttert – die Gewalttätigkeit in Brechts Theater dieser Zeit noch immer. Wie in der umstrittenen «Massnahme», wo ein junger Genosse wegen seiner Unfähigkeit – er liess sich von Mitgefühl leiten, statt im Sinne der Partei zu handeln – schliesslich in seine eigene Hinrichtung einwilligt, wird in der «Heiligen Johanna der Schlachthöfe» an die Zuschauenden der Aufruf gerichtet, dafür zu sorgen, «dass ihr, die Welt verlassend / Nicht nur gut wart, sondern verlasst / Eine gute Welt.» Und Johanna später: «Darum wer unten sagt, dass es einen Gott gibt / Und kann sein unsichtbar und hülfe ihnen doch / Den soll man mit dem Kopf auf das Pflaster schlagen / Bis er verrreckt ist.» Wie geht man heute mit solcher «Moral» um? Ignorieren? Diffamieren? Das Schauspielhaus Zürich engagiert den ehemaligen Brechtmitarbeiter Benno Besson und Zürich hat sein Theaterereignis.

Wie aktuell Brechts Stücke und gerade «Die heilige Johanna» in den Zeiten von Massenarbeitslosigkeit, Megafusionen und Globalisierung heute doch seien, säuselt es durch den bürgerlichen Blätterwald. Doch die Arbeitslosen stauen sich nicht in den Strassen, das Unglück kommt immer noch scheinbar wie der Regen und heisst freie Marktwirtschaft; niemand schlägt die VeranstalterInnen der Esoterik-Messer «Lebenskraft» mit dem Kopf auf das Pflaster, und die BildungsbürgerInnen gehen ins Theater. Natürlich betreiben die Medien mit ihrer Berichterstattung vornehmlich Standortmarketing: Zürich die Kulturstadt. Und mit der Inszenierung Benno Bessons lässt sich geschickt der Bogen zur grossen Zeit des Schauspielhauses in den vierziger Jahren, auf die man heute so stolz ist, schlagen. Nach der Premiere kann das Feuilleton dann mäkelen, das Stück sei zu schnell, zu marionettenhaft gespielt worden, oder beklagt gar wie die NZZ, man wisse am Ende nicht mehr, als man zu Beginn des Abends schon gewusst habe: «Metzger bleibt Metzger.» (Was wäre es denn, was sie Neues hätten wissen wollten…?)

Die Bank Leu wünscht den TheaterbesucherInnen im Schauspielhaus-Magazin «königliche Unterhaltung»; schlägt man die Zeitung auf, so prangen in grossen Lettern Johannas Schlussworte «Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und es helfen nur Menschen, wo Menschen sind!» Den unmittelbar vorangehenden Satz mit dem Schlagen der Köpfe aufs Plaster mochte man nicht zitieren. In der Inszenierung fällt er natürlich. Beiläufig, wie eigentlich alles Reden in diesen zweieinhalb Stunden, verfremdet, gebrochen alle Figuren, die Arbeiterführer mutlos, als wüssten sie schon von Scheitern des realsozialistischen Experimentes, Johannas Wortschwall der Empörung oft gerade noch gut für einen Lacher – Katharina Thalbach als Johanna und Samuel Fintzi als Pierpont Mauler erhalten am Ende langanhaltenden warmen Applaus – und immer die Gewissheit vermittelnd, wie wenig engagiertes Theater heute vermag. Alles Gründe, sich die «Heilige Johanna» nicht anzusehen? Eine müssige Frage für politisch Interessierte und Engagierte!

Erschienen im März 1998 in der Wochenzeitung «vorwärts».

Fortsetzung folgt

Im “Kultürchen“ gibts heuer eine Fortsetzungsweihnachtsgeschichte. Ich bin sehr gespannt, wie mein Beitrag (9.12) weitergeschrieben wurde! Schaut doch rein! Jeden Tag ein neues Kapitelchen auf zmitz.ch (Illustrationen von Melanie Caroline Wigger).

Kultürchen 2022

Solothurner Kultur-Adventskalender

«Kultürchen 13»: Felix Epper

Dieses Jahr schaut zmitz im kulturellen Adventskalender, was bei Kunst- und Kulturschaffenden aus der Region grad so Aktuelles läuft. Im 13. Kultürchen besuchen wir Autor Felix Epper in seiner Werkstatt.

Kein Tag vergeht, ohne dass der Solothurner Autor Felix Epper etwas schreibt, dichtet, kürzt – mit Text, Buchstaben und Formen arbeitet –> hier geht‘s zum Beitrag.