Wienacht

1956
1956

Der Schriftsteller war zu frühem Ruhm gekommen und verkümmerte nun durch die Jahre. Man stelle sich die mittleren Jahrzehnte eines Jahrhunderts vor: Da saß es sich noch an schweren, hölzernen Tischen. Über Schnee schrieb er nur, wenn’s schneite, und wenn die Zeitungsredaktoren etwas von ihm einforderten, dann eine Geschichte mit Gemüt. Am besten eine Weihnachtsgeschichte. Der Schriftsteller hatte kein Gemüt, dachte an Bruder und Mutter – die in die Anstalt gekommen oder einen Strick sich um den Hals gelegt – und suchte dann auf dem Papier den Weg nach Wienacht Tobel. Im Appenzellischen soll’s dieses Wienacht geben, dessen Hänge man sommers wie winters begehen konnte. Der Schriftsteller war niemals da gewesen, vermutete aber auch im Sommer ewigen Schnee. Wie in der Wüste, so ist es auch dort in der Nacht bitter kalt, und wo’s nur Hänge gibt, da herrscht die wüstene ewige Nacht des Eises. Der Schriftsteller ließ nun seinen Jesus in die Wüste zurückgehen, wo er geboren worden war. Es war heiß und kalt, und auch der Teufel war einst aus einem Schoß gekrochen und des Versuchens eigentlich müde. So froren und schwitzten sie zusammen: Jesus und der Teufel. Liefen in den Wüstensandsturm, der sie wie Schneetreiben umgab, und tatsächlich ging in Wienacht roter Schnee nieder, den die Lüfte aus Nordafrika hergetragen hatten. Roter Saharasand, Worte wie diese strich sich der Schriftsteller in seinem Tagblatt an; war es heute gewesen oder vor Tagen, Jahren? Wienacht schien ihm schon eine Geschichte in einem Wort. Lieber Herr Verleger, frage ich Sie höflichst an, ob Sie sich mit dem schönsten aller Ortsnamen – wenigstens zu diesem Zwecke – zufriedengeben könnten. Ich begehre auch nicht, der Erfinder zu sein. Man möge mich auch nur für den Weißraum bezahlen: Eine solche Seite stelle ich mir hübsch vor. Denken Sie nun nicht, dieses Weiß sei billig erkauft, geradezu ergaunert! Nur schon diese Leere fertig zu denken – – – aber wie Sie sehen, finde ich mitten im Satz zu ihrer – trotz alledem – geschätzten abschlägigen Antwort, der ich natürlich wie einem Befehl Folge leiste. Ich freue mich darüber, daß Sie mich anspornen, diese Leere zu füllen, auf daß sie dann den Lesern aufs Trefflichste munde. Aber ist nicht jeder andere Christbaumschmuck als Schnee eine Sünde? Und nicht ein Automobil etwa gerade in der Weihnachtszeit ein Verbrechen? Nun, darum stelle ich mir Wienacht so einsam, so waldverloren wie möglich vor. Heftigste rote Sahara-Schneefälle schneiden das Dorf von der Außenwelt – dem Leben selbst – ab. Die Menschen – – – vereisen. Zwischen ihren ausgebreiteten Fingern bilden sich gefrorene Schwimmhäute. Haare und hoffentlich Bärte werden zu wilden Büschen. Wienacht eine einzige Wüste. Ein rotes Weiß, ein weißes Rot. Schneeblumen wie um Dornröschens Schloß. Rote weiße Rosen, Eiszapfen spitz wie Dornen, die Wasserfälle vereist, die Herzen frisch wie nie zuvor. – – – Der Schriftsteller wünschte sich zuweilen einen Ofen ins Zimmer, um die Finger geschmeidiger halten zu können. Denn warm und satt, das müssen die Finger sein, wenn sie über Weihnachten schreiben, die Geschichte fließt dann förmlich aus den Fingerspitzen heraus: Soviel Bürgerlichkeit, Güte, Liebe und Essen an einem Tag! Der Schriftsteller soll, so spukt es mir heute morgen, seine Geschichten auch nach dem Verstummen im Jahre 1933 nicht nur weiter im Kopfe herumgetragen, sondern immer noch auf kleinen Papierstreifen notiert haben…

Robert Walser starb am Weihnachtstag 1956 – also vor vierzig Jahren – auf einer Anhöhe ob Herisau.