Schwarzgeräumt

Erster Dezember. Es ist Morgen. Es liegt Schnee. Das perfekte Mass der individuellen Melancholie lässt sich aus der Reaktion auf ein solches Ereignis lesen.* Thomas’ erster Gedanke war sachlicher Natur. Es seien – fast ironisch – der kalendarische und der meteorologische Winteranfang zusammen gefallen. Um 6:58 Uhr war dann der Schneepflug vorbeigefahren. Thomas blieb, nur kurz geblendet, im Bett liegen. Sah er sich als Jungen schneeballwerfend zur Schule ziehen, einem Wegelagerer, Indianer gleich? Nein. Ein Abgrund schien ihn von seiner Kindheit zu trennen. Er stellte sich manchmal vor, wie die Schnee-Sonderschicht-Arbeiter der städtischen Werke jahrelang vor den steifen, an den Plastikstiefeln festgezurrten Hosen stehen des Nachts und warten und warten aufs Weisse, die Feuerwehr verfluchen – «Brennen tut’s ja auch ab und wann…» Heute aber, heute aber ist der große Tag.

Nicht für Thomas. Die Füße schauen unter der Decke hervor. Ihm ist kalt. «Für den Wärmeausgleich des Körpers muss man abwechslungsweise das rechte und das linke Bein im Luftstrom platzieren.» Du hattest dies wie einen Rhythmus automatisiert. Das kalte Bein auf das warme pressen — das kompensiert wundersam meine Abwesenheit in deinem Leben, denkt sich Thomas. Verlassen an einem ersten Dezember auch aufgrund einer gewissen – ihn schwer erträglich machenden – Weinerlichkeit, wie seine Ex-Geliebte Monate später in einem Brief schreiben sollte. Nicht mehr weiß das Papier nach der Niederschrift – schmutzig war es wie der Schnee auf der zuvor schwarzgeräumten Quartier-Straße am ersten Dezember. Noch liegt er auf den schmalen Ästen, der Strassenlampe und auch dem Fensterbrett. Filigran, so wie diese Vögel Spuren setzen, sollte man denken können, sagte Thomas und die Flocken wirbelten wieder dichter.

* Schöne Schneegeschichten haben Stifter, Walser und Jean Paul geschrieben.

Felix Epper
Felix Epper, lebt und schreibt in Solothurn.