Röst hin Gewissen, Gier!

«…hat sich Felix Epper mit seinen Anagrammen in eine sehr spezielle Richtung der Literatur vorgewagt.» Solothurner Zeitung


Röst hin Gewissen, Gier!

«Geheiss Wörter sinnig!»
Hirngrösse Weingeist

«Röst hin Gewissen, Gier!»
Gestern Öhis Wesir: «Gin?» –
«’n Gin! Is’ geweiht.» – «Rösser-
hirn wie Rösti g’gessen.»
– «Öh… Ei, Wirsing, Gerste?» –
«Higgs, wös?» – «Stiernieren!» –
«Gern. Hör! Ist Wein Essig?»
– «Gewiss.» Rösi rinnet. «Geh!»
Wirt: «Resis Söhne, geigt!» ’n
Gönner: «Hier ist gewiss
Eis, Rösi!» – «Hinweg!» Streng:
«Rösi isst gerne.» – «Hinweg!»
Wirr: «Sieg! Segen… Nö! Shit!»
– «Gehirn, stör weise. Sing
Western! Sing, Öhi! Greis!»
–«Wir rein…» Gestöhn: «Geiss!»
– «Hörig wirst geniessen…» –
«Wir Ösen!» Geists Gehirn
gewisser Gören ist hin! *

*3 Wörter mit 19 Buchstaben zu 19 Anagrammen – nebst Vorrede einer Geistesgrösse – geformt als 1 Moment Stammtischprosa. Mit Rösi, Resi, dem Orchester (bestehend aus Resis Söhnen), Wein, Weib und Gesang, einem namenlosen Gönner, dem Wirt, einem obskuren Wesir und dem Öhi. Und auch mit dieser Fussnote nicht entzaubert.

Einer von fünf preisgekrönten Texten des Festivals Science et cité 2005

Auf einem fremden, eigentümlichen unbekannten Planeten

«Nietzsche ist in meinen Augen deshalb ein Bezauberer und Verführer, den man freilich nirgends in seinen so schönen, hinreissenden Zeilen wörtlich nehmen darf, sondern den man sich immer nach irgendeiner Richtung hin übersetzen muss, so als wenn er nicht auf der Erde, vielmehr auf einem fremden, eigentümlichen unbekannten Planeten geliebt, gelebt, gelitten und Band auf Band zusammengezimmert und -geschrieben hätte.»
Eine weitere Stecknadel im Heuhaufen von Robert Walser (BGV/S.261f.)

Auf einem fremden, eigentümlichen unbekannten Planeten

«Nietzsche ist in meinen Augen deshalb ein Bezauberer und Verführer, den man freilich nirgends in seinen so schönen, hinreissenden Zeilen wörtlich nehmen darf, sondern den man sich immer nach irgendeiner Richtung hin übersetzen muss, so als wenn er nicht auf der Erde, vielmehr auf einem fremden, eigentümlichen unbekannten Planeten geliebt, gelebt, gelitten und Band auf Band zusammengezimmert und -geschrieben hätte.»
Eine weitere Stecknadel im Heuhaufen von Robert Walser (BGV/S.261f.)

Gruses Gnusch

Gruses Gnusch, was de bisch. Feini Huere, wo dr sid. D’Suppe isch verbrännt. Machet’s besser, wenn dr chönnt. Es isch nämlich cheibe schwer, verrückt z’dichte. Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet, Bd. V, S. 61

Werkjahrpreis für Literatur 2004

«Der Autor experimentiert mit Textsorten, er kombiniert in wechselnder Mischung realistischen Bericht mit surrealistischen Passagen und intimem Psychogramm, mit Satire, Zitat und Persiflage. In den publizierten Arbeiten zeigt sich zunehmend deutlich eine unverwechselbare Gestaltungsweise, es erscheint ein eigener sprachlicher Gestus im Vielerlei der Themen und Stilelemente.»

Aus der Laudatio des Solothurner Kuratoriums zum Werkjahrpreis 2004

«Solange ich verletzlich bleibe, kann ich weiterschreiben.»

Sie hat eben ihren ersten Roman veröffentlicht, ist aber schon seit fünfzehn Jahren im Geschäft. Eine Begegnung mit der Zürcher Schriftstellerin Aglaja Veteranyi.

Vorbemerkung: 05.02.02. Aglaja Veteranyi ist tot. Wenig ist heute zu sagen: Ich bin sehr traurig. Ich habe Aglajya nur wenige Mal getroffen und war bewegt über ihre Herzlichkeit, Offenheit und – ich wage es hier kaum mehr zu schreiben – Lebensfreude. Das Gespräch mit Aglaja Veteranyi habe ich vor ziemlich genau zwei Jahren für die Monatszeitung «Toaster» geführt.

aglaja2

Es ist zwei Uhr Nachmittags. Langsam verebben die Geräusche in der Kronenhalle am Zürcher Bellevue; die letzten Wagen mit Essen werden zu den Gästen geschoben; ganze Heerscharen von Kellnern huschen vorbei; am Tisch nebenan wählt der Mann von Welt eine Zigarre; der Rauch steigt auf an den Gemälden der alten Meister vorbei zur hohen Decke. Und alles ist ein wenig alt und gelb – die Patina vergangener Zeiten, als Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt um die Wette schmauchten, hat sich hier festgesetzt. Die Schriftstellerin und Schauspielerin Aglaja Veteranyi liebt diesen Ort, und wer ihr zuhört, merkt, wie sich der Raum verwandelt, sich mit ihren Worten füllt, wenn sie über ihren ersten Roman «Warum das Kind in der Polenta kocht», über Tod und Leben und die Leidenschaft des Schreibens spricht.

Im Buch, erschienen diesen Sommer, wird die Geschichte einer Familie erzählt, die aus Rumänien in den Westen flieht, dort aber fremd bleibt und auseinanderbricht. Geschildert wird das Leben in der Zirkusmanege, in Hotels, Heimen und billigen Varietés aus der Sicht eines Kindes. «Ich konnte nur so und nicht anders schreiben. Nur aus der Perspektive des Kindes heraus, war ich fähig, all das Grausame, Unmoralische dieser Geschichte zu erzählen.» Allgegenwärtig ist der Tod. Die Mutter hängt in der Kuppel des Zirkus an den Haaren, und um das kleine Mädchen zu beruhigen erzählt die grosse Schwester die Geschichte vom Kind, das in der Polenta kocht. «Viele Leute und auch ein Teil der Medien erwarten vom Buch, dass sie mitgenommen werden in eine nostalgische Zirkuswelt. Wer das Buch liest, wird aber sofort merken, dass das mit der Realität nichts zu tun hat.» Sterben, Erfahrung der Fremde und Abschied sind die Themen, die Veteranyi in wunderbar präzisen, meist sehr kurzen Sätzen in Sprache gefasst hat. Bei Lesungen im Ausland lobe man die Leichtigkeit der Form, sagt sie. In Deutschland und der Schweiz begegne man dem knappen Stil mitunter mit Misstrauen. Man sieht den einfachen Sätze die Arbeit, die darin steckt nicht gleich an.

Ausbruch aus der geistigen Öde
Ich komme auf die vielen grausamen Szenen im Roman zu sprechen. Im Kinderheim muss aus Strafe das Erbrochene mit aufgegessen werden. Im Varieté wird dem Mädchen, weil es noch zu jung ist, um nackt aufzutreten ein behaartes Dreieck zwischen die Beine geklebt, gleichzeitig aber wacht die Mutter mit Argusaugen über dem Kind. Für Aglaja Veteranyi ist der gegen die Mutter gerichtete Wunsch – «Mich hat noch nie ein Mann am richtigen Ort berührt. Ich denke an nichts anderes. Ich will von zweien gleichzeitig vergewaltigt werden.» – so schockierend er auch tönt, etwas Befreiendes. Die Oberfläche einer scheinheiligen Welt bekommt Risse. Verdrängtes, wie das Verhältnis des Vaters mit der Schwester kommt zum Vorschein. «Wir stehen täglich vor der Wahl, Opfer oder Täter zu sein», zitiert Veteranyi einen Satz von Hilde Domin. «Das Mädchen, die junge Frau versucht sich aus dem primitiven Verhalten der Familie, die sich immer nur als Opfer der Verhältnisse wahrnimmt und in einer geistigen Öde lebt, auszubrechen.» In den vielen Deutungen der Geschichte des Kindes, das in der Polenta kocht, wechseln Opfer- und Täterrolle. Veteranyi betont denn auch das Parabel-, Gleichnishafte nicht nur dieser Geschichte, sondern des ganzen Romans. Soviel die Schriftstellerin auch über ihren Roman zu erzählen weiss, die Faszination bleibt ungebrochen, da wird nichts zerredet oder zu Tode erklärt, weil man stets die Präsenz und das Engagement dieser Frau hinter dem Text spürt.
In Diskussionen wird Veteranyi immer wieder mit der Frage nach dem Autobiografischen im Text konfrontiert. «Der Maler Henri Matisse sagte einmal ’Genauigkeit ist nicht Wahrheit.’ Der Roman ist nicht meine Lebensgeschichte; ich muss mir beim Schreiben jede Freiheit nehmen und sprachlich so präzis wie möglich sein. » Veteranyi hat sich in den fünfzehn Jahren, in denen sie schreibt, immer wieder mit dem Stoff, der nun ihr erstes Buch geworden ist, beschäftigt. Der Verlag und die Autorengruppe «Netz» haben ihr geholfen, die richtige sprachliche Form zu finden. Angst, das nun das Etikett «Zirkusroman» an ihr kleben bleibt, hat sie nicht. Ganz anders werde ihr neues Buch, und Schreiben sei für sie, die vor dem Roman schon eine grosse Zahl von Kurzgeschichten veröffentlicht hat, eine – mit zunehmend mehr Freude als Qual verbundene – alltägliche Arbeit: «Solange ich verletzlich bleibe, kann ich weiterschreiben.»

Aglaja Veteranyi, Warum das Kind in der Polenta kocht. Roman, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1999, 190 Seiten, sFr. 27.50

Wir bleiben bis ihr geht

«Wir bleiben bis ihr geht» hiess es anfang der 90er Jahre in Neuchlen-Anschwilen (SG).

Die Linke begeht ihre Jahrestage – Globuskrawall, Kaiseraugust, Opernball. Generationen haben sich die Meriten an die Lederjacken geheftet – auch ein paar Hundert OstschweizerInnen in Neuchlen -Anschwilen. Ein Veteranentreffen fand nicht statt. Was ist aus den CampteilnehmerInnen von damals geworden? (Text aus dem Jahr 2000.)

Wir bleiben bis ihr geht

Sag mir wo die Blumen sind

Sennechutelli, Shit u. Wisswii

Ein hoffnungsvoller Schweizer Jungautor wird eingeladen, die 50. Frankfurter Buchmesse durch seine Lesung zu bereichern. Doch was sich abspielt, ist etwas anders als erwartet.

Ich dachte, es wär ’ne gute Sache, der freundlichen Einladung meines Verlages zu folgen, mein Buch unter den Arm zu klemmen, in den Zug zu steigen und zur Buchmesse nach Frankfurt zu fahren.

«Ich bin auch so ein Autor», raune ich meinem Sitznachbarn zu, verschwinde aber bald darauf aufs Klo, um meine Hustenmittel vor den Zöllnern und Bullen in Sicherheit zu bringen. Die Grenze ist nah, und wegen ein paar Tüten Shit hängenbleiben und den angekündigten Auftritt am Gemeinschaftsstand des Buchverleger-Verbandes zu verpassen, das ist nicht mein Ding. Auf dem Klo gehe ich dann doch auf Nummer Sicher und rauche einen ansehnlichen Teil meiner Vorräte. Als ich in mein Abteil zurückkomme, bin ich ziemlich breit. Halbe-Halbe is n‘ fairer Deal, sage ich mir hochdeutsch. Genug für mich – genug für die Drogenbeschlagnahmungsstatistik. Die Dosis sollte bis heut‘ Abend reichen und noch kann ich Wörter wie Drogenbeschlagnahmungsstatistik fehlerfrei denken. « Du, gosch au uff Frankfurt?» frage ich meinen Nachbarn, der auf Swiss-EthnoLook macht. Ich scheine mitten im Rahmenprogramm-Zug gelandet zu sein. Ich erhalte keine Antwort, dafür ordert der Typ im Chutteli an der Minibar eine Flasche Weissen. Polytox … , Polytoxoman, – auf jeden Fall: Drogen mischen tut selten gut, denkt es, aber Zunge, Mund und der ganze Rest bestellen auch Weissen. «Proscht!» sag‘ ich und erhebe mein Glas. «Isch das Rahmeprogramm, wo du dra teilnimmsch i de Halle Siebe? Die söll doch ziemlich nüechter sii? » – « Nüechter, d‘ Halle Siebe? Bisch bsoffe? » Man hält mich wohl für einen totalen Idioten. Klar, ich habe noch nicht einmal ein ganzes eigenes Buch publiziert, aber fast, und von der Halle Sieben im wunderbaren DDR-Design gibt’s doch Fotos, die ich gesehen habe … Ich überlass meinem trachternen Nachbarn die Flasche Weissen, «weck mi, wenn mer z‘ Frankfurt sind!», und schon schlaf ich. Fahrkarte und Pass ausgebreitet, dass mich niemand störe in meiner schöneren Welt …

Der Chuttelimensch hat sich davongemacht, ohne mich zu wecken, dafür hat er die Flasche mitgenommen. Ich klaub‘ meinen Pass aus dem Weissweinsiff. Verdammt die volkstümlichen Menschenmassen draussen, sind ja nur für die Animation da. All die Schertenleibs, Rebers, Jennys im schicken Fummel sind früher gefahren, aber da draussen steht er ja, mein Mittrinker. «Du wotsch doch i’d Halle siebe und bisch jetzt scho schlapp? » hör ich ihn noch sagen, und ich klappe wieder weg, merke im Wegdämmern, wie man sich links und rechts von mir einhakt. «Die junge Lüt, nünt verträget’s nie … » Ich hab drei Stunden Zeit bis zu meiner Lesung, hämmert es in mein Hirn. Ihr Lachen ist grausig, schallt zwischen den Zahnlücken hervor. «Ich muess ein vieri i dä Halle 4.1 sii … » Bis dann werden wir noch ein Gläschen trinken, sagt mir ihr emsiger Schritt.

Die Sonne sticht vom Himmel, ich bin schwer, so schwer, mein Kopf gross, rund, ich möchte DadaGedichte lallen, Finnegans Wake rezitieren, Glauser zuhören, wie er seine Haschisch- Experimente vorliest, in dieser heilig- nüchternen Halle Sieben wandeln, diese schönen Bücher in neutralen Umschlägen sehen und auf einmal meinen Namen darauf entdecken, statt dessen bin ich nur noch Nase, rieche Bier, Bätziwasser, Kirsch, Käseschnitten. «Do, iss die Chässchnitte, Bueb, denn goht’s der wieder besser». Eine Ahnung von Rührung für meine Beschützer umschmeichelt mich, bis sich wieder der saure Weisswein und der Geruch von Erbrochenem mischen. Schweizer Küche.

«He, junge Maa, scho ein Morge ein halbi elfi, jo frühner … » Mit diesen letzten Worten kehrt nicht Nüchternheit ein, aber ein kleiner, sich rasend ausbreitender Gedanke, der zur Erkenntnis wird. Ich habe durchgeknallt wie ich war – nicht gemerkt, dass ich den falschen Zug genommen habe, den Eurocity Albert Einstein, statt den ICE Seppl Herberger. Als GA-Besitzer weist dich kein Kondukteur darauf hin, dass du auf Abwegen bist. GA-Besitzer sind selbständig. Kurz: Ich bin nicht in Frankfurt, sondern an der Milch und Landwirtschaftsmesse Olma in St. Gallen. Ein nicht enden wollender Schrei durchdringt die Degustationshalle Sieben, Alk-Leichen werden wach und die Kellnerin giesst Biergläser über leicht gewölbte Männerschritte.

Erschienen in der Monatszeitung «Toaster», 1998.

Wienacht

1956
1956

Der Schriftsteller war zu frühem Ruhm gekommen und verkümmerte nun durch die Jahre. Man stelle sich die mittleren Jahrzehnte eines Jahrhunderts vor: Da saß es sich noch an schweren, hölzernen Tischen. Über Schnee schrieb er nur, wenn’s schneite, und wenn die Zeitungsredaktoren etwas von ihm einforderten, dann eine Geschichte mit Gemüt. Am besten eine Weihnachtsgeschichte. Der Schriftsteller hatte kein Gemüt, dachte an Bruder und Mutter – die in die Anstalt gekommen oder einen Strick sich um den Hals gelegt – und suchte dann auf dem Papier den Weg nach Wienacht Tobel. Im Appenzellischen soll’s dieses Wienacht geben, dessen Hänge man sommers wie winters begehen konnte. Der Schriftsteller war niemals da gewesen, vermutete aber auch im Sommer ewigen Schnee. Wie in der Wüste, so ist es auch dort in der Nacht bitter kalt, und wo’s nur Hänge gibt, da herrscht die wüstene ewige Nacht des Eises. Der Schriftsteller ließ nun seinen Jesus in die Wüste zurückgehen, wo er geboren worden war. Es war heiß und kalt, und auch der Teufel war einst aus einem Schoß gekrochen und des Versuchens eigentlich müde. So froren und schwitzten sie zusammen: Jesus und der Teufel. Liefen in den Wüstensandsturm, der sie wie Schneetreiben umgab, und tatsächlich ging in Wienacht roter Schnee nieder, den die Lüfte aus Nordafrika hergetragen hatten. Roter Saharasand, Worte wie diese strich sich der Schriftsteller in seinem Tagblatt an; war es heute gewesen oder vor Tagen, Jahren? Wienacht schien ihm schon eine Geschichte in einem Wort. Lieber Herr Verleger, frage ich Sie höflichst an, ob Sie sich mit dem schönsten aller Ortsnamen – wenigstens zu diesem Zwecke – zufriedengeben könnten. Ich begehre auch nicht, der Erfinder zu sein. Man möge mich auch nur für den Weißraum bezahlen: Eine solche Seite stelle ich mir hübsch vor. Denken Sie nun nicht, dieses Weiß sei billig erkauft, geradezu ergaunert! Nur schon diese Leere fertig zu denken – – – aber wie Sie sehen, finde ich mitten im Satz zu ihrer – trotz alledem – geschätzten abschlägigen Antwort, der ich natürlich wie einem Befehl Folge leiste. Ich freue mich darüber, daß Sie mich anspornen, diese Leere zu füllen, auf daß sie dann den Lesern aufs Trefflichste munde. Aber ist nicht jeder andere Christbaumschmuck als Schnee eine Sünde? Und nicht ein Automobil etwa gerade in der Weihnachtszeit ein Verbrechen? Nun, darum stelle ich mir Wienacht so einsam, so waldverloren wie möglich vor. Heftigste rote Sahara-Schneefälle schneiden das Dorf von der Außenwelt – dem Leben selbst – ab. Die Menschen – – – vereisen. Zwischen ihren ausgebreiteten Fingern bilden sich gefrorene Schwimmhäute. Haare und hoffentlich Bärte werden zu wilden Büschen. Wienacht eine einzige Wüste. Ein rotes Weiß, ein weißes Rot. Schneeblumen wie um Dornröschens Schloß. Rote weiße Rosen, Eiszapfen spitz wie Dornen, die Wasserfälle vereist, die Herzen frisch wie nie zuvor. – – – Der Schriftsteller wünschte sich zuweilen einen Ofen ins Zimmer, um die Finger geschmeidiger halten zu können. Denn warm und satt, das müssen die Finger sein, wenn sie über Weihnachten schreiben, die Geschichte fließt dann förmlich aus den Fingerspitzen heraus: Soviel Bürgerlichkeit, Güte, Liebe und Essen an einem Tag! Der Schriftsteller soll, so spukt es mir heute morgen, seine Geschichten auch nach dem Verstummen im Jahre 1933 nicht nur weiter im Kopfe herumgetragen, sondern immer noch auf kleinen Papierstreifen notiert haben…

Robert Walser starb am Weihnachtstag 1956 – also vor vierzig Jahren – auf einer Anhöhe ob Herisau.