Gruses Gnusch

Gruses Gnusch, was de bisch. Feini Huere, wo dr sid. D’Suppe isch verbrännt. Machet’s besser, wenn dr chönnt. Es isch nämlich cheibe schwer, verrückt z’dichte. Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet, Bd. V, S. 61

Werkjahrpreis für Literatur 2004

«Der Autor experimentiert mit Textsorten, er kombiniert in wechselnder Mischung realistischen Bericht mit surrealistischen Passagen und intimem Psychogramm, mit Satire, Zitat und Persiflage. In den publizierten Arbeiten zeigt sich zunehmend deutlich eine unverwechselbare Gestaltungsweise, es erscheint ein eigener sprachlicher Gestus im Vielerlei der Themen und Stilelemente.»

Aus der Laudatio des Solothurner Kuratoriums zum Werkjahrpreis 2004

«Solange ich verletzlich bleibe, kann ich weiterschreiben.»

Sie hat eben ihren ersten Roman veröffentlicht, ist aber schon seit fünfzehn Jahren im Geschäft. Eine Begegnung mit der Zürcher Schriftstellerin Aglaja Veteranyi.

Vorbemerkung: 05.02.02. Aglaja Veteranyi ist tot. Wenig ist heute zu sagen: Ich bin sehr traurig. Ich habe Aglajya nur wenige Mal getroffen und war bewegt über ihre Herzlichkeit, Offenheit und – ich wage es hier kaum mehr zu schreiben – Lebensfreude. Das Gespräch mit Aglaja Veteranyi habe ich vor ziemlich genau zwei Jahren für die Monatszeitung «Toaster» geführt.

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Es ist zwei Uhr Nachmittags. Langsam verebben die Geräusche in der Kronenhalle am Zürcher Bellevue; die letzten Wagen mit Essen werden zu den Gästen geschoben; ganze Heerscharen von Kellnern huschen vorbei; am Tisch nebenan wählt der Mann von Welt eine Zigarre; der Rauch steigt auf an den Gemälden der alten Meister vorbei zur hohen Decke. Und alles ist ein wenig alt und gelb – die Patina vergangener Zeiten, als Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt um die Wette schmauchten, hat sich hier festgesetzt. Die Schriftstellerin und Schauspielerin Aglaja Veteranyi liebt diesen Ort, und wer ihr zuhört, merkt, wie sich der Raum verwandelt, sich mit ihren Worten füllt, wenn sie über ihren ersten Roman «Warum das Kind in der Polenta kocht», über Tod und Leben und die Leidenschaft des Schreibens spricht.

Im Buch, erschienen diesen Sommer, wird die Geschichte einer Familie erzählt, die aus Rumänien in den Westen flieht, dort aber fremd bleibt und auseinanderbricht. Geschildert wird das Leben in der Zirkusmanege, in Hotels, Heimen und billigen Varietés aus der Sicht eines Kindes. «Ich konnte nur so und nicht anders schreiben. Nur aus der Perspektive des Kindes heraus, war ich fähig, all das Grausame, Unmoralische dieser Geschichte zu erzählen.» Allgegenwärtig ist der Tod. Die Mutter hängt in der Kuppel des Zirkus an den Haaren, und um das kleine Mädchen zu beruhigen erzählt die grosse Schwester die Geschichte vom Kind, das in der Polenta kocht. «Viele Leute und auch ein Teil der Medien erwarten vom Buch, dass sie mitgenommen werden in eine nostalgische Zirkuswelt. Wer das Buch liest, wird aber sofort merken, dass das mit der Realität nichts zu tun hat.» Sterben, Erfahrung der Fremde und Abschied sind die Themen, die Veteranyi in wunderbar präzisen, meist sehr kurzen Sätzen in Sprache gefasst hat. Bei Lesungen im Ausland lobe man die Leichtigkeit der Form, sagt sie. In Deutschland und der Schweiz begegne man dem knappen Stil mitunter mit Misstrauen. Man sieht den einfachen Sätze die Arbeit, die darin steckt nicht gleich an.

Ausbruch aus der geistigen Öde
Ich komme auf die vielen grausamen Szenen im Roman zu sprechen. Im Kinderheim muss aus Strafe das Erbrochene mit aufgegessen werden. Im Varieté wird dem Mädchen, weil es noch zu jung ist, um nackt aufzutreten ein behaartes Dreieck zwischen die Beine geklebt, gleichzeitig aber wacht die Mutter mit Argusaugen über dem Kind. Für Aglaja Veteranyi ist der gegen die Mutter gerichtete Wunsch – «Mich hat noch nie ein Mann am richtigen Ort berührt. Ich denke an nichts anderes. Ich will von zweien gleichzeitig vergewaltigt werden.» – so schockierend er auch tönt, etwas Befreiendes. Die Oberfläche einer scheinheiligen Welt bekommt Risse. Verdrängtes, wie das Verhältnis des Vaters mit der Schwester kommt zum Vorschein. «Wir stehen täglich vor der Wahl, Opfer oder Täter zu sein», zitiert Veteranyi einen Satz von Hilde Domin. «Das Mädchen, die junge Frau versucht sich aus dem primitiven Verhalten der Familie, die sich immer nur als Opfer der Verhältnisse wahrnimmt und in einer geistigen Öde lebt, auszubrechen.» In den vielen Deutungen der Geschichte des Kindes, das in der Polenta kocht, wechseln Opfer- und Täterrolle. Veteranyi betont denn auch das Parabel-, Gleichnishafte nicht nur dieser Geschichte, sondern des ganzen Romans. Soviel die Schriftstellerin auch über ihren Roman zu erzählen weiss, die Faszination bleibt ungebrochen, da wird nichts zerredet oder zu Tode erklärt, weil man stets die Präsenz und das Engagement dieser Frau hinter dem Text spürt.
In Diskussionen wird Veteranyi immer wieder mit der Frage nach dem Autobiografischen im Text konfrontiert. «Der Maler Henri Matisse sagte einmal ’Genauigkeit ist nicht Wahrheit.’ Der Roman ist nicht meine Lebensgeschichte; ich muss mir beim Schreiben jede Freiheit nehmen und sprachlich so präzis wie möglich sein. » Veteranyi hat sich in den fünfzehn Jahren, in denen sie schreibt, immer wieder mit dem Stoff, der nun ihr erstes Buch geworden ist, beschäftigt. Der Verlag und die Autorengruppe «Netz» haben ihr geholfen, die richtige sprachliche Form zu finden. Angst, das nun das Etikett «Zirkusroman» an ihr kleben bleibt, hat sie nicht. Ganz anders werde ihr neues Buch, und Schreiben sei für sie, die vor dem Roman schon eine grosse Zahl von Kurzgeschichten veröffentlicht hat, eine – mit zunehmend mehr Freude als Qual verbundene – alltägliche Arbeit: «Solange ich verletzlich bleibe, kann ich weiterschreiben.»

Aglaja Veteranyi, Warum das Kind in der Polenta kocht. Roman, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1999, 190 Seiten, sFr. 27.50

Wir bleiben bis ihr geht

«Wir bleiben bis ihr geht» hiess es anfang der 90er Jahre in Neuchlen-Anschwilen (SG).

Die Linke begeht ihre Jahrestage – Globuskrawall, Kaiseraugust, Opernball. Generationen haben sich die Meriten an die Lederjacken geheftet – auch ein paar Hundert OstschweizerInnen in Neuchlen -Anschwilen. Ein Veteranentreffen fand nicht statt. Was ist aus den CampteilnehmerInnen von damals geworden? (Text aus dem Jahr 2000.)

Wir bleiben bis ihr geht

Sag mir wo die Blumen sind

Sennechutelli, Shit u. Wisswii

Ein hoffnungsvoller Schweizer Jungautor wird eingeladen, die 50. Frankfurter Buchmesse durch seine Lesung zu bereichern. Doch was sich abspielt, ist etwas anders als erwartet.

Ich dachte, es wär ’ne gute Sache, der freundlichen Einladung meines Verlages zu folgen, mein Buch unter den Arm zu klemmen, in den Zug zu steigen und zur Buchmesse nach Frankfurt zu fahren.

«Ich bin auch so ein Autor», raune ich meinem Sitznachbarn zu, verschwinde aber bald darauf aufs Klo, um meine Hustenmittel vor den Zöllnern und Bullen in Sicherheit zu bringen. Die Grenze ist nah, und wegen ein paar Tüten Shit hängenbleiben und den angekündigten Auftritt am Gemeinschaftsstand des Buchverleger-Verbandes zu verpassen, das ist nicht mein Ding. Auf dem Klo gehe ich dann doch auf Nummer Sicher und rauche einen ansehnlichen Teil meiner Vorräte. Als ich in mein Abteil zurückkomme, bin ich ziemlich breit. Halbe-Halbe is n‘ fairer Deal, sage ich mir hochdeutsch. Genug für mich – genug für die Drogenbeschlagnahmungsstatistik. Die Dosis sollte bis heut‘ Abend reichen und noch kann ich Wörter wie Drogenbeschlagnahmungsstatistik fehlerfrei denken. « Du, gosch au uff Frankfurt?» frage ich meinen Nachbarn, der auf Swiss-EthnoLook macht. Ich scheine mitten im Rahmenprogramm-Zug gelandet zu sein. Ich erhalte keine Antwort, dafür ordert der Typ im Chutteli an der Minibar eine Flasche Weissen. Polytox … , Polytoxoman, – auf jeden Fall: Drogen mischen tut selten gut, denkt es, aber Zunge, Mund und der ganze Rest bestellen auch Weissen. «Proscht!» sag‘ ich und erhebe mein Glas. «Isch das Rahmeprogramm, wo du dra teilnimmsch i de Halle Siebe? Die söll doch ziemlich nüechter sii? » – « Nüechter, d‘ Halle Siebe? Bisch bsoffe? » Man hält mich wohl für einen totalen Idioten. Klar, ich habe noch nicht einmal ein ganzes eigenes Buch publiziert, aber fast, und von der Halle Sieben im wunderbaren DDR-Design gibt’s doch Fotos, die ich gesehen habe … Ich überlass meinem trachternen Nachbarn die Flasche Weissen, «weck mi, wenn mer z‘ Frankfurt sind!», und schon schlaf ich. Fahrkarte und Pass ausgebreitet, dass mich niemand störe in meiner schöneren Welt …

Der Chuttelimensch hat sich davongemacht, ohne mich zu wecken, dafür hat er die Flasche mitgenommen. Ich klaub‘ meinen Pass aus dem Weissweinsiff. Verdammt die volkstümlichen Menschenmassen draussen, sind ja nur für die Animation da. All die Schertenleibs, Rebers, Jennys im schicken Fummel sind früher gefahren, aber da draussen steht er ja, mein Mittrinker. «Du wotsch doch i’d Halle siebe und bisch jetzt scho schlapp? » hör ich ihn noch sagen, und ich klappe wieder weg, merke im Wegdämmern, wie man sich links und rechts von mir einhakt. «Die junge Lüt, nünt verträget’s nie … » Ich hab drei Stunden Zeit bis zu meiner Lesung, hämmert es in mein Hirn. Ihr Lachen ist grausig, schallt zwischen den Zahnlücken hervor. «Ich muess ein vieri i dä Halle 4.1 sii … » Bis dann werden wir noch ein Gläschen trinken, sagt mir ihr emsiger Schritt.

Die Sonne sticht vom Himmel, ich bin schwer, so schwer, mein Kopf gross, rund, ich möchte DadaGedichte lallen, Finnegans Wake rezitieren, Glauser zuhören, wie er seine Haschisch- Experimente vorliest, in dieser heilig- nüchternen Halle Sieben wandeln, diese schönen Bücher in neutralen Umschlägen sehen und auf einmal meinen Namen darauf entdecken, statt dessen bin ich nur noch Nase, rieche Bier, Bätziwasser, Kirsch, Käseschnitten. «Do, iss die Chässchnitte, Bueb, denn goht’s der wieder besser». Eine Ahnung von Rührung für meine Beschützer umschmeichelt mich, bis sich wieder der saure Weisswein und der Geruch von Erbrochenem mischen. Schweizer Küche.

«He, junge Maa, scho ein Morge ein halbi elfi, jo frühner … » Mit diesen letzten Worten kehrt nicht Nüchternheit ein, aber ein kleiner, sich rasend ausbreitender Gedanke, der zur Erkenntnis wird. Ich habe durchgeknallt wie ich war – nicht gemerkt, dass ich den falschen Zug genommen habe, den Eurocity Albert Einstein, statt den ICE Seppl Herberger. Als GA-Besitzer weist dich kein Kondukteur darauf hin, dass du auf Abwegen bist. GA-Besitzer sind selbständig. Kurz: Ich bin nicht in Frankfurt, sondern an der Milch und Landwirtschaftsmesse Olma in St. Gallen. Ein nicht enden wollender Schrei durchdringt die Degustationshalle Sieben, Alk-Leichen werden wach und die Kellnerin giesst Biergläser über leicht gewölbte Männerschritte.

Erschienen in der Monatszeitung «Toaster», 1998.

Wienacht

1956
1956

Der Schriftsteller war zu frühem Ruhm gekommen und verkümmerte nun durch die Jahre. Man stelle sich die mittleren Jahrzehnte eines Jahrhunderts vor: Da saß es sich noch an schweren, hölzernen Tischen. Über Schnee schrieb er nur, wenn’s schneite, und wenn die Zeitungsredaktoren etwas von ihm einforderten, dann eine Geschichte mit Gemüt. Am besten eine Weihnachtsgeschichte. Der Schriftsteller hatte kein Gemüt, dachte an Bruder und Mutter – die in die Anstalt gekommen oder einen Strick sich um den Hals gelegt – und suchte dann auf dem Papier den Weg nach Wienacht Tobel. Im Appenzellischen soll’s dieses Wienacht geben, dessen Hänge man sommers wie winters begehen konnte. Der Schriftsteller war niemals da gewesen, vermutete aber auch im Sommer ewigen Schnee. Wie in der Wüste, so ist es auch dort in der Nacht bitter kalt, und wo’s nur Hänge gibt, da herrscht die wüstene ewige Nacht des Eises. Der Schriftsteller ließ nun seinen Jesus in die Wüste zurückgehen, wo er geboren worden war. Es war heiß und kalt, und auch der Teufel war einst aus einem Schoß gekrochen und des Versuchens eigentlich müde. So froren und schwitzten sie zusammen: Jesus und der Teufel. Liefen in den Wüstensandsturm, der sie wie Schneetreiben umgab, und tatsächlich ging in Wienacht roter Schnee nieder, den die Lüfte aus Nordafrika hergetragen hatten. Roter Saharasand, Worte wie diese strich sich der Schriftsteller in seinem Tagblatt an; war es heute gewesen oder vor Tagen, Jahren? Wienacht schien ihm schon eine Geschichte in einem Wort. Lieber Herr Verleger, frage ich Sie höflichst an, ob Sie sich mit dem schönsten aller Ortsnamen – wenigstens zu diesem Zwecke – zufriedengeben könnten. Ich begehre auch nicht, der Erfinder zu sein. Man möge mich auch nur für den Weißraum bezahlen: Eine solche Seite stelle ich mir hübsch vor. Denken Sie nun nicht, dieses Weiß sei billig erkauft, geradezu ergaunert! Nur schon diese Leere fertig zu denken – – – aber wie Sie sehen, finde ich mitten im Satz zu ihrer – trotz alledem – geschätzten abschlägigen Antwort, der ich natürlich wie einem Befehl Folge leiste. Ich freue mich darüber, daß Sie mich anspornen, diese Leere zu füllen, auf daß sie dann den Lesern aufs Trefflichste munde. Aber ist nicht jeder andere Christbaumschmuck als Schnee eine Sünde? Und nicht ein Automobil etwa gerade in der Weihnachtszeit ein Verbrechen? Nun, darum stelle ich mir Wienacht so einsam, so waldverloren wie möglich vor. Heftigste rote Sahara-Schneefälle schneiden das Dorf von der Außenwelt – dem Leben selbst – ab. Die Menschen – – – vereisen. Zwischen ihren ausgebreiteten Fingern bilden sich gefrorene Schwimmhäute. Haare und hoffentlich Bärte werden zu wilden Büschen. Wienacht eine einzige Wüste. Ein rotes Weiß, ein weißes Rot. Schneeblumen wie um Dornröschens Schloß. Rote weiße Rosen, Eiszapfen spitz wie Dornen, die Wasserfälle vereist, die Herzen frisch wie nie zuvor. – – – Der Schriftsteller wünschte sich zuweilen einen Ofen ins Zimmer, um die Finger geschmeidiger halten zu können. Denn warm und satt, das müssen die Finger sein, wenn sie über Weihnachten schreiben, die Geschichte fließt dann förmlich aus den Fingerspitzen heraus: Soviel Bürgerlichkeit, Güte, Liebe und Essen an einem Tag! Der Schriftsteller soll, so spukt es mir heute morgen, seine Geschichten auch nach dem Verstummen im Jahre 1933 nicht nur weiter im Kopfe herumgetragen, sondern immer noch auf kleinen Papierstreifen notiert haben…

Robert Walser starb am Weihnachtstag 1956 – also vor vierzig Jahren – auf einer Anhöhe ob Herisau.

Den Kopf aufs Pflaster schlagen

Hundert Jahre Brecht und regelmässig volles Haus bei Benno Bessons Inszenierung von «Die heilige Johanna der Schlachthöfe». Wie geht man um in Zürich mit diesem marxistischen Stück um Armut und Ausbeutung, Widerstand und der Nutzbarmachunng einer Revolutionärin zur Besänftigung der Massen?

«Als ich ‹Das Kapital› von Marx las, verstand ich meine Stücke.»
B.B. 1928.

«Es hilf nur Gewalt wo Gewalt herrscht»
Programmheft Bertolt Brecht DIE HEILIGE JOHANNA DER SCHLACHTHÖFE Premiere 28. Februar 1998

Brecht schrieb – unterstützt von seinen «Mitarbeitern», u.a. Elisabeth Hauptmann – die «Johanna» in den Jahren 1929/30. Die Erfahrung des Crashs in New York veranlasste Brecht, Studien an den Börsen Berlins und Wiens zu betreiben. Anders als die vorangegangenen Arbeiten, etwa die «Jasager» oder die «Massnahme» ist die «Heilige Johanna kein abstraktes Lehrstück. Aber natürlich ist eine Menge von Brechts Marxlektüre auch in diesem Stück aufgegangen. Die Geschichte der Heilsarmistin Johanna Dark, die der «Armen Armut» kennenlernt und sich zur proletarischen Agiatorin wandelt und des Fleischkönigs Mauler mit den «zwei Seelen in seiner Brust» verblüfft auch heute noch. Keine widerspruchsfreie Welt, und keine einfache Wahrheit zeigt uns Brecht. Die Figur des Mauler wird in ihrer ganzen Dialektik von Profitgier und Mitgefühl – das eine gibt’s nicht ohne das andere – in aller Pracht enfaltet. Die an Goethe und Schiller angelehnte Sprache überzeugt durch ihren Witz und entstellt die Figuren bis zur Kenntlichkeit. Verhandelt werden menschliche Schicksale – die aber beispielhaft für ein Allgemeines stehen. «Die heilige Johanna der Schlachthöfe» fand in Deutschland – wen verwundert’s – keinen guten Boden. Nach einer einmaligen Sendung einer Hörspielfassung im Berliner Rundfunk dauerte es 30 Jahre bis zur ersten Bühneaufführung. In den letzten Jahren der Weimarer Republik prallten die gesellschaftlichen und politischen Gegensätze auch in der Kulturwelt mit aller Wucht aufeinander. In Erfurt etwa unterbrach die Polizei eine Aufführung der «Massnahme» und machte dem Veranstalter einen Hochverratsprozess. Noch haben die Faschisten die Macht nicht ergriffen, doch der Kampf wird schon auf offener Strasse ausgetragen. Denoch erstaunt – und erschüttert – die Gewalttätigkeit in Brechts Theater dieser Zeit noch immer. Wie in der umstrittenen «Massnahme», wo ein junger Genosse wegen seiner Unfähigkeit – er liess sich von Mitgefühl leiten, statt im Sinne der Partei zu handeln – schliesslich in seine eigene Hinrichtung einwilligt, wird in der «Heiligen Johanna der Schlachthöfe» an die Zuschauenden der Aufruf gerichtet, dafür zu sorgen, «dass ihr, die Welt verlassend / Nicht nur gut wart, sondern verlasst / Eine gute Welt.» Und Johanna später: «Darum wer unten sagt, dass es einen Gott gibt / Und kann sein unsichtbar und hülfe ihnen doch / Den soll man mit dem Kopf auf das Pflaster schlagen / Bis er verrreckt ist.» Wie geht man heute mit solcher «Moral» um? Ignorieren? Diffamieren? Das Schauspielhaus Zürich engagiert den ehemaligen Brechtmitarbeiter Benno Besson und Zürich hat sein Theaterereignis.

Wie aktuell Brechts Stücke und gerade «Die heilige Johanna» in den Zeiten von Massenarbeitslosigkeit, Megafusionen und Globalisierung heute doch seien, säuselt es durch den bürgerlichen Blätterwald. Doch die Arbeitslosen stauen sich nicht in den Strassen, das Unglück kommt immer noch scheinbar wie der Regen und heisst freie Marktwirtschaft; niemand schlägt die VeranstalterInnen der Esoterik-Messer «Lebenskraft» mit dem Kopf auf das Pflaster, und die BildungsbürgerInnen gehen ins Theater. Natürlich betreiben die Medien mit ihrer Berichterstattung vornehmlich Standortmarketing: Zürich die Kulturstadt. Und mit der Inszenierung Benno Bessons lässt sich geschickt der Bogen zur grossen Zeit des Schauspielhauses in den vierziger Jahren, auf die man heute so stolz ist, schlagen. Nach der Premiere kann das Feuilleton dann mäkelen, das Stück sei zu schnell, zu marionettenhaft gespielt worden, oder beklagt gar wie die NZZ, man wisse am Ende nicht mehr, als man zu Beginn des Abends schon gewusst habe: «Metzger bleibt Metzger.» (Was wäre es denn, was sie Neues hätten wissen wollten…?)

Die Bank Leu wünscht den TheaterbesucherInnen im Schauspielhaus-Magazin «königliche Unterhaltung»; schlägt man die Zeitung auf, so prangen in grossen Lettern Johannas Schlussworte «Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und es helfen nur Menschen, wo Menschen sind!» Den unmittelbar vorangehenden Satz mit dem Schlagen der Köpfe aufs Plaster mochte man nicht zitieren. In der Inszenierung fällt er natürlich. Beiläufig, wie eigentlich alles Reden in diesen zweieinhalb Stunden, verfremdet, gebrochen alle Figuren, die Arbeiterführer mutlos, als wüssten sie schon von Scheitern des realsozialistischen Experimentes, Johannas Wortschwall der Empörung oft gerade noch gut für einen Lacher – Katharina Thalbach als Johanna und Samuel Fintzi als Pierpont Mauler erhalten am Ende langanhaltenden warmen Applaus – und immer die Gewissheit vermittelnd, wie wenig engagiertes Theater heute vermag. Alles Gründe, sich die «Heilige Johanna» nicht anzusehen? Eine müssige Frage für politisch Interessierte und Engagierte!

Erschienen im März 1998 in der Wochenzeitung «vorwärts».

Bürokratie des Todes, (Ohn)macht der Bilder

«Keine Ausstellung über Kambodscha», so der zuständige Kurator Martin Heller, ist im Zürcher Museum für Gestaltung zu sehen. Die Fotodokumente aus Tuol Sleng, dem Folterzentrum der Roten Khmer lassen die BetrachterIn mit den Opfern allein. Die Menschen, mit denen man in den engen Gängen konfrontiert wird, ermahnen einen daran, zu welchen Grausamkeiten Menschen in diesem Jahrhundert imstande waren und sind. Doch persönliche Betroffenheit kann die politische Analyse nicht ersetzen, wie der Philosoph Hans Saner in einer, die Ausstellung begleitenden Diskussion ausführte. Neben Saner, Heller und dem Fotographen Daniel Schwartz kam das Publikum ausführlich zu Wort. Nicht alle waren sich einig darüber, ob es sinnvoll sei, die Bilder (in dieser Form) zu zeigen. 


Vom alles beherrschenden Schatten der Vergangenheit über Kambodschas Gegenwart zeugen nicht nur die 10’000’000 Landminen, die weiterhin Tausende von Menschen verstümmeln. Der Fotograf Daniel Schwartz, der das Land immer wieder besuchte, schlug in seinem Referat einen Bogen von ersten europäischen Engagement – 1863 vereinnahmte Frankreich Kampuchea in seine Kolonie Indochina – über die 500’000 Opfer der amerikanischen Geheim-Bombenangriffe in Kambodscha während des Vietnam-Krieges, hin zur Schreckensherrschaft der Khmer Rouge. Dias aus der „Nachkriegszeit“ illustrierten seine Worte. Zynisch – oder muss man von Galgenhumor reden? – kommentierte er ein Bild, das Dutzende von amerikanischen Bombenkratern zeigte, die heute als Fischteiche dienen. Die US-Angriffe wurden u.a. unter den Codeworten „Breakfast“ oder „Lunch“ geflogen …
Die Geschichte der Roten Khmer, die eine Umgestaltung der Gesellschaft sondergleichen und eine Schreckensherrschaft im blutigsten Sinn des Wortes praktizierten, ist in ihren groben Zügen bekannt. In weniger als vier Jahren starben eine Million Menschen (es gibt Schätzungen, die viel höher reichen); viele an Hunger, Unterernährung und falsch behandelten Krankheiten, denn Pol Pot lehnte die westliche Medizin ab. Besser war die Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Geheimdienst, die das ‚Steinzeitkommunismus‘-Regime bis zum Schluss – und darüber hinaus unterstützte. Als 1979 die Terrorherrschaft mit Hilfe Vietnams endlich beendet wurde, verweigerte die UNO unter Druck der USA und Chinas die Anerkennung der neuen Regierung. Die UN bestanden auch darauf, dass die Khmer Rouge in den Friedensprozess, der in den Wahlen von 1993 gipfelte, einbezogen wurde. An den Wahlen, die eine Koalition aller Parteien an die Macht brachten, beteiligten sich die Roten Khmer aber nicht; inzwischen beherrschen sie wieder einen Fünftel des Landes, organisieren den illegalen Export von Tropenhölzern und Edelsteinen ins Ausland und sind – trotz dem Genozid der 70er Jahre für viele KambodschanerInnen die einzige relevante politische Kraft. Die DorfbewohnerInnen haben mehr Angst vor den offiziellen Truppen, denen unterbezahlt kaum etwas anderes übrigbeliebt, als zu plündern, als vor den Khmer Rouge. (1)
Nach dem Abzug der UNO, die nur zwei der vier gesteckten Ziele erreichte, (von einer Befriedung der Konfliktparteien und der Entminung kann keine Rede sein), nämlich die Repatrierung der Flüchtlinge und die Abhaltung „freier Wahlen“, herrscht im Land Unsicherheit und Angst. Die Regierung isz handlungsunfähig, die UNO-Mission brachte Prostitution, Drogenhandel und eine völlige Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen. Der Bürgerkrieg geht schleichend weiter, die Entminung des Landes würde 160 Jahre dauern – und laufend werden neue Minen in die Erde vergraben; Opfer sind oft Kinder, die mit den Büffel das Land pflügen. Die Seelenfänger gehen um, wie Schwartz berichtete. Sie versprechen den Leuten, dass die verstümmelten Gliedmassen wieder nachwachsen. Die Religion ist Zuflucht für viele, die Karmalehre rechtfertigt aber auch die Grausamkeiten und den Terror, der allgegenwärtig ist. Kann man von einem spezifisch „kambodschanischen Grauen“ (2) sprechen, wie das David Chandler im Ausstellungskatalog tut?

Pol Pots „Schule“
Saloth Sar, ehemaliger Lehrer und Generalsekretär der kommunistischen Zeit in „vorrevolutionärer Zeit“, besser bekannt unter dem Namen Pol Pot, verordnete seinem Land nach einem fünf Jahre dauernden Bürgerkrieg 1976 einen Vierjahresplan, der die landwirtschaftliche Produktion verdreifachen, mit den Erlösen des Exports die Industrialisierung vorantreiben sollte. Ohne Werkzeuge, Anleitung oder Vieh, mussten zwei Millionen halbverhungerte StadtbewohnerInnen dieses Wunder vollbringen.
Die Zentrale gab Befehle und verlangte die Einhaltung des Planes. Die lokalen Funktionäre fälschten aus Angst die Berichte. Trotz der schlechten Ernte mussten die Quoten, die für die Haptstadt aufgestellt wurden, erfüllt werden. Wenn die „Überschüsse“ ins Zentrum geschafft wurden, hiess das nichts anderes, als dass die Nahrung, die eigentlich für die jeweilige Region gedacht war, von dort verschwand. Tausend Hungerten, und als wenn die Nachricht von ihrem Tod das Zentrum erreichte, wurden Hunderte von Funktionären mit der Anschuldigung verhaftet, sie hätten den Plan sabotiert.
Als klar wurde, dass die Ziele nie erreicht werden würden, fielen mehr und mehr Funktionäre, aber auch einfache Bauern unter den Verdacht der „Sabotage“. Viele der Opfer gehörten zum engsten Kreis der Bewegung. Von den „killing field“, den Exekutionsfeldern, existieren keine schriftlichen Zeugnisse mehr; 1979 grub man die sterblichen Überreste von Abertausenden wieder aus.
Männer und Frauen, denen schwere Verbrechen angelastet wurden, brachte man vom Land in das geheime Gefängis S-21 in Tuol Sleng. Der Verwalter, ein ehemaliger Lehrer organisierte die Bürokratie des Todes genauso „gewissenhaft“ wie er früher seine Schulklassen. Alle neu Eintreffenden in der zum Folterzentrum umfunktionierten Volksschule wurden mit Nummern versehen und fotografiert, um sie dann systematisch zu auszulöschen. (3) Es waren keine Schauprozesse, wie unter dem Stalininsmus oder „Umerziehungen“ wie in Maos China oder in Vietnam; die Folterungen verliefen geheim, Ziel war die körperliche Vernichtung; Angehörige und Kinder der Angeklagten wurden wie selbstverständlich der gleichen Tortur unterzogen. Diese Fotos, aus denen das Entsetzen die BetrachterIn unmittelbar anspringt, sind als ein einzigartiges Zeugnis erhalten geblieben.

Sind das gute Bilder?
Im Besonderen sind es die Bilder der Kinder, die einen hilflos machen. 120 der 6000 Fotos sind in engen, weiss gestrichenen Gängen in der Galerie des Museums für Gestaltung ausgestellt; Auge in Auge sieht man sich gegenüber. Was mir im Kopf ablief, lässt sich nicht ordnen, oder rational darlegen. Alle müssen sich dieser Erfahrung selbst stellen. Ob man sich selbst als Henker oder Fotograf fühlt, an welchen Genozid dieses Jahrhunderts man denkt, die Ausstellung lässt es offen. „Es sei keine Ausstellung über Kambodscha“ sagte Martin Heller in der Diskussion. Für mich war der Besuch aber Anstoss und Wunsch, mich vertiefter mit der Geschichte dieses Landes zu befassen, einer Geschichte, die gerade in der Linken kaum präsent ist.

Zu einer weitergehenden Auseinandersetzung stellt das Museum für Gestaltung ausser dem Katalog wenig schriftliche Informationen zur Verfügung. Es werden auch keine Führungen organisert. Umso wichtiger war die bereits oben angesprochene öffentliche Diskussion. Diese befasste sich, mit Ausnahme der einleitenden Worte von Daniel Schwartz aber weniger mit der konkreten Geschichte. Im Zentrum standen ethische und ästhetische Fragen. Dürfen diese Bilder überhaupt gezeigt werden. Und wenn ja, in welchem Rahmen? Hans Saner bejahte die erste Frage unbedingt. „Diese Bilder sind die einzige Art und Weise, das Gedenken an die Opfer wach zu halten.“ Die Fotographen hätten nicht eine Ästhetik des Terrors im Sinne gehabt, sodern eine Dokumentation. „Diese Bilder verharmlosen nicht, sie sind das Werk von Bürokraten, aber das Unerklärliche ist: Es sind gute Bilder, die ihresgleichen in der Dokumentar-Fotografie nicht haben.“ Martin Heller las Passagen eines Briefes vor, dessen Verfasser sich empörte, dass die Qualität der Bilder ein Kriterium der Ausstellung sei. Und eine Zuhörerin doppelte nach: „Wie schlecht hätten die Fotos sein müssen, dass man sie nicht gezeigt hätte?“ Heller konnte keine Antwort geben. Er sei froh, dass nicht er die Auswahl hatte treffen müssen; er hat die Auswahl der beiden Fotografen Riley und Niven, die das Archiv in Tuol Sleng sichteten, übernommen. Und schon die Aufgabe, die Bilder nach ästhetischen Kriterien zu ordnen sei sei eigentlich unlösbar.

Kunst als Widerstand und Anpassung

Alle Fotografen wurden im Laufe der Zeit selbst Opfer von Folterungen. So erklärt sich vielleicht die Qualität der Bilder. Ein Wunsch, möglichst genau zu dokumentieren, weil einem sont nichts bleibt. Saner schlug einen Bogen zum Nationalsozialismus. In Theresienstadt wurden regelmässig Operetten aufgeführt; für viele der Insassen war die Kunst eine Überlebensnotwendigkeit. Das dürfe man nicht vergleichen, kam der Einwand einer Zuhörerin. „Kunst ist nicht immer nur Widerstand“, antwortete Saner, die Aufführungen wurden vom KZ-Kommandanten befohlen. Eine fand anlässlich einer Rot Kreuz-Visite statt. Man steckte die DarstellerInnen in schwarze Kleider, gab ihnen bessere Essen; nur gute Schuhe liessen sich nicht auftreiben. So wurde eine Brüstung errichtet, welche die Füsse, die in Holzschuhen steckten, verbragen. „Genausowenig ist die Kunst der Fotographen in Tuol Sleng nur Kollaboration mit dem Regime.“
Ein Zuhörer, der das Museum in Kambodscha selbst besucht hatte, fühlte sich durch die Art, wie die Bilder in Zürich ausgestellt wurden, verletzt. Die Menschen seien aus ihrer Biographie herausgerissen worden. „Es gibt unzählige Dokumente, die man hätte berücksichtigen sollen, um den Menschen eine andere Identität als die des Opfers zu geben.“ Hier trafen die unterschiedlichen Auffassungen in aller Schärfe aufeinander. Sollen die Bilder ein Symbol dieses Jahrhunderts sein, wie es die Ausstellung will, oder geht es um möglichst exakte Aufklärung der (historischen) Umstände. Ob das Museum für Gestaltung diese Arbeit überhaupt leisten könnte, ist eine andere Frage. Ich wünschte mir mehr zusätzliche Informationen. Denn, wie Hans Saner richtig bemerkte: „Die Solidarität, das Gedenken an die Opfer ist wichtig, genauso wichtig ist das politische Bewusstsein.“
Felix Epper

Ausstellung bis 14. Januar 1996 im Museum für Gestaltung in Zürich zu sehen.

Dieser Text erschien 1995 in der Wochenzeitung «vorwärts.

Fussnoten:

(1) Dies bestätigt auch der Bericht des UN-Generalsekretärs für Menschenrechtsfragen in Kambodscha, Kirby. Vgl. Le Monde Diplomatique, Februar 1995, S. 13
(2) „Facing Death“, Photographers International Nr. 19 (1995), zusammen mit einer Deutschen Übersetzung
(3) Über den „Alltag“ in S-21 gibt die Einleitung zu „Facing Death“ einen ersten Eindruck. So schrecklich diese Dokumente sind, müssen sie doch gelesen werden.