die fischsuppe

lesespiel mit fünf notausgängen

text & bild von felix EPPER 

ort: stube in einem pfarrhaus 

zeit: heute

personen der handlung:

der PFARRER

die ZUGEHFRAU

ein DIEB

der GEIST

JESUS am KREUZ

die FISCHPUPPE

die FISCHSUPPE

weiter: TELLER, LÖFFEL, die HOSTIE, FISCHE,

JESUS im HALS, als FISCHGRÄTE, HERR und

WELS und nicht zuletzt das PUBLIKUM

Geschrieben 1994 im ETH-Seminar «Schreibarbeit» von Adolf Muschg.
Eine Szenische Lesung des Textes – untermalt mit Lichtbildern von Alexandra Koch – fand 1995 im Dynamo Zürich statt.

 

ZUGEHFRAU hat er wirklich schreien gehört?
PFARRER ich höre nur stimmen.
ZUGEHFRAU er drücke sich doch nicht ständig vor der verantwortung.
PFARRER  geheimnisse vor mir, du?
GEIST die wege des HERRN sind gut und wunderbar.
PFARRER ans publikum sie ist meine zugehfrau, aber ich nenne sie putzfrau.
PUBLIKUM applaudiert
jeder trägt ein kruzifix in der hand
JESUS  hängt
GEIST ich fühl mich wie der jesus, mir tut das kreuz so weh.
der PFARRER nimmt sein kreuz
von der wand und schlägt dann 
die zeitung auf: ei, ei, ei, ein kratzer!
ZUGEHFRAU lese er vor!
PFARRER  umfragen ergeben, dass männer durchschnittlich zwei  komma neun mal pro woche verkehren, die frauen aber  nur zwei komma eins mal.
GEIST schwebt über den
köpfen des PFARRERs
und der ZUGEHFRAU zwei komma neun co it us in ter rup tus.
ZUGEHFRAU ob frauen wählerischer sind in ihrer bereitschaft den co it  us in ter rup tus als gnadengeschenk unseres HERRNs zu  bezeichnen?
JESUS  allein und verlassen allein und verlassen.
ZUGEHFRAU lese er weiter vor.
PFARRER  putz, frau! meine zeit ist knapp!
GEIST ich denke, also bin ich unfrei.
JESUS die kurse für fisch fallen.
ZUGEHFRAU lese er weiter vor.
PFARRER  ich bin es leid den kirchenboten, den ich selbst  geschrieben habe, auch noch vorzulesen.
von der kanzel herab schleicht der
DIEB, die hostie im mund und 
klopft. er tritt ein. ich möchte mit deiner putzfrau schlafen.
PFARRER  erstens ist sie meine zugehfrau, und nur ich nenne sie sie  putzfrau, und zweitens ist dies ein heiliges haus.
der DIEB im haus des HERRN
streckt die zunge raus und 
sichtbar wird die HOSTIE
die HOSTIE spricht: die wege des HERRN sind wunderbar
ZUGEHFRAU geht auf 
den DIEB zu: frau deines herzens zu sein, oh wie schwer wiegt die  bürde meines amtes.
PFARRER das möchte ich wohl meinen.
ZUGEHFRAU geht auf den DIEB zu: ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein dach, aber sprich nur ein wort und so wird meine seele gesund.
sie küsst die hostie
der DIEB lässt die hostie in
den gaumen zurückgleiten 
und schluckt sie
JESUS IM HALS ich bin die fischgräte in deinem hals.
der DIEB hustet und läuft rot an
die ZUGEHFRAU umarmt den 
dieb und reisst ihm die kleider 
vom leib.
der PFARRER reiche sie mir die ölsardinen, im namen des vaters und  des sohnes …
er macht drei kreuze auf 
die stirn des DIEBES .
Die ZUGEHFRAU errötet,
denn einen so nackten 
mann hatte sie noch nie
gesehen,und also auch 
einen so schönen nicht.
PFARRER er ist tot.
die ZUGEHFRAU deckt
ihn mit sorgfalt zu und 
ihre hand zittert dabei
JESUS wieder am kreuz: ordnung muss sein..
der GEIST der dieb im hause des herrn hat ihr nicht die  jungfräulichkeit geraubt.
PFARRER die putzfrau ist das haus des seins.
er löffelt die sardinen und 
markiert immer wieder 
kreuze auf den leichnam.
er leckt sich die finger und 
poliert die wundmale
des gekreuzigten.
ZUGEHFRAU der dieb meines herzens.
sie hebt die decke, die über 
den toten hingebreit ist und 
blickt in die aufgerissenen 
augen, fischgräte ragen aus 
dem hals, sie zieht und bringt 
einen langen fisch zum vorschein.
das PUBLIKUM holt fische 
aus den manteltaschen und 
wirft sie auf die bühne
es schreit: mehr fisch!
die ZUGEHFRAU fällt mit 
einem klatschenden ton vornüber
JESUS ALS WELS seelig sind die gebenden.
die ZUGEHFRAU hat schuppen
vor den augen
der PFARRER hängt das kruzifix
an die wand und bedeckt nun 
auch den zweiten körper mit 
dem tuch. weil der wind durch
das offene fenster bläst, und 
das tuch droht weggefegt zu 
werden, beschwert er das
tuch mit den fischen, die
überall herumliegen.
das PUBLIKUM küsst die 
kreuze, die es mitgebracht hat 
der PFARRER beginnt 
preistäfelchen zu schreiben
und steckt sie in die fische.
er packt fische ins pfarrblatt.
er schlüpft in die pantoffeln
der ZUGEHFRAU , liest
den eingewickelten fisch vor sich.
die schlagzeilen. eine gnade für
uenmörder im p
eater besuche s
teure halbtot.
it einem weiss
der GEISTund JESUS setzen sich
an den tisch und essen die
ölsardinen des PFARRERS
auf. der GEIST rollt den deckel 
der dose gedankenverloren in 
die die stigmata von JESUS
JESUS mein kreuz, mein kreuz!
der PFARRER setzt sich zu 
den beiden, steht gleich wieder 
auf und holt die kleider des 
diebes. er stopft sie mit fischen 
voll, aus dem hemdkragen 
guckt ein rotbrasch.
JESUS prostet der puppe zu 
während der GEIST weiter 
das blut des HERRN in 
die kelche rinnen lässt.
der PFARRER liest gedankenverloren das pfarrblatt.:  fisch von meinem …

JESUS zuckt es ständig in den 
fingern und er will einen fisch
aus der PUPPE rausziehen 
die FISCHPUPPE und 
die FISCHE im chor: was gott zusammengefügt hat, soll der mensch nicht  trennen
JESUS zieht errötend die 
hand zurück: seht doch, das PUBLIKUM presst die  kruzifixe enger an sich  und atmet schneller

der PFARRER knöpft die 
hose der puppe zu.
der GEIST senkt den arm, 
blättert in der bibel und spricht: und nun sah man, wie sie zu reden begannen, hörte aber  kein wort
gleichzeitig senkt sich der 
gläserne vorhang und aus den 
notausgängen flutet wasser in
den zuschauerraum. ein 
verzweifeltes schwimmen setzt ein, 
die zuschauer pressen ihre münder 
an die scheibe und glotzen blöde. 
weil sie zu reden versuchen, 
schlucken sie wasser.
die FISCHPUPPE seufzt: nie ist man zufrieden. wer im trockenen sitzt will baden,  wer schwimmt will am pfarrerstisch fischsuppe essen
JESUS es ist eigentümlich; fürwahr, da opfern sie die heilige  jungfrau, aber es nützt garnichts.
PFARRER sollen wir die fische zurückwerfen?
FISCHPUPPE meine teile faulen
GEIST lese er vor!
PFARRER hat er wirklich schreien gehört? ich höre nur stimmen,  stimmen, sie lachen und weinen von überall her, immerzu. bin ich verhext?
JESUS schaut, das wasser hat die decke erreicht. nix da mit  darüber wandeln.
die FISCHPUPPE
riecht vor sich hin: fisch von meinem fisch
das PUBLIKUM hängt 
oben an der decke, 
die kruzifixe liegen 
auf dem grund
die ZUGEHFRAU rappelt 
sich aus dem leichentuch, 
sieht die PUPPE dasitzen 
und will sich auf sie stürzen. 
da zögert sie und geht 
gemessenen schrittes auf 
den tisch zu.
der PFARRER mir schwant etwas
der GEIST nehmen sie platz.
JESUS du hast gesündigt wider den HERRN, doch ich habe  dich erweckt
ZUGEHFRAU einen schmarren redest du. ich war bloss ohnmächtig.
die FISCHPUPPE will sie fischsuppe mit uns essen?
die fünf sitzen da und löffeln
JESUS der tauchsieder im zuschauerraum bewährt sich. die  wandlung, die sich vollzieht ist immer wieder erstaunlich.  wie ein wenig heiliges feuer, den menschen die fischaugen  überquellen lässt!
PFARRER wir mussten die kirchensteuern erhöhen, dafür gibt es  jeden sonntag fischsuppe für die gemeinde.
JESUS schaut, der wassespiegel senkt sich, die pumpen arbeiten  schnell und befördern die brühe in die grossen fässer in  die kirche, in einer halben stunde ist es gar.
FISCHPUPPE ich verfaule
JESUS sind die aktien wieder gefallen?
FISCHPUPPE ich verfaule
die ZUGEHFRAU der dieb meines herzens, er war so schön wie ein mann  nur sein kann, wenn er keine frau ist.
FISCHPUPPE ich verfaule
der GEIST es wird zeit, dass wir neue suppe kriegen, eine woche, das  dauert … zu fischig, ja, ja zu fischig ist sie jetzt.
FISCHPUPPE ich verfaule
JESUS wer hat den wirtschaftsteil zum einwickeln der fische  verwendet?
FISCHPUPPE ich verfaule
PFARRER  ich wasche meine hände in unschuld
ZUGEHFRAU jedes jahr dasselbe
FISCHPUPPE ich verfaule
TELLER und LOEFFEL ich mag nicht mehr essen helfen
FISCHSUPPE ich verfaule
JESUS was ihr dem geringsten meiner brüder, es wird gegessen,  was auf den tisch kommt
der PFARRER  der teller hat recht
FISCHSUPPE ich verfaule
die FISCHPUPPE sackt in 
sich zusammen
FISCHSUPPE ich verfaule
der gläserne vorhang senkt 
sich und zersplittert
in millionen teile, als er
den boden erreicht. 
tosender beifall.

 

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Lesen Sie zeitgenössische Literatur auf Ihrem eBook-Reader. Ich empfehle etwa ein Gerät von Pocket-Book, gekauft in der lokalen Buchhandlung. Ich bin nicht wirklich ein Freund von Amazon und dem Kindle, mag aber die Hausschrift Bookerly sehr. Man kann sie auf jedem Reader einsetzen. Download hier.

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Hier drei Kurzgeschichten von Felix Epper:

Fliegenfänger. Erzählung
(Format epub)

Ein böser Traum.
Erzählung in drei Kapiteln (Format epub)

Florida
Kleine Erzählung von Felix Epper (Format ePub)


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Bücher

  Sprung auf die Plattform, nagel & Kimche, 1998, vergriffen

In Gonten, im Appenzellischen, habe ich immer den Gemischtwarenladen mit diesem schlichten hölzernen Schild bewundert. «Handlung» stand darauf.

Nun masse ich mir ganz und gar nicht an, eine Buchhandlung zu sein (mit so wenigen Büchern in der Auswahl) – eine Handlung bin ich aber mit Überzeugung.

Decken Sie sich mit schönen Büchern zu oder ein!

 

Erhältlich sind:

Felix Epper: Nachtwind, gezuernt. Dichten unter Zwang
Allerlei Anagramme und andere kleine Poesie von Felix Epper
32 Seiten, fadengebunden
Edition «la meuth» Solothurn, 2020
ISBN 978-3-033-07539-9
CHF/EUR 19.00

Felix Epper, Erich Keller: Frankie klingeling/teenage blue, 1995, Layrinth Verlag Trogen. CHF 22.– /

Monika Burri, Felix Epper et al: Schnell gehen auf Schnee: Rotpunktverlag Zürich 1998, CHF 30.– (Kurzgeschichten von sieben AutorInnen)

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Felix Epper feiert den Kunst- und Kulturpreis 2019

Am Donnerstag, 14. November 2019 lädt der Preisträger des Kunst- und Kulturpreise der Sparte Literatur in die Kreuz-Bar in Solothurn.

Der Schauspieler Hanspeter Bader liest Texte von Felix Epper.

Keine Bar ohne Flüssiges! Alle sind herzlich zu einem Umtrunk eingeladen.

Felix Epper, in St. Gallen geboren und heute in Solothurn wohnhaft, ist mit seinen Texten seit vielen Jahren ein fester Bestandteil des regionalen Literaturschaffens. In seinen Geschichten vermischen sich realistische Begebenheiten mit fiktionalen sowie auch mit surrealistischen Stilelementen.

19:00 Barbetrieb / 20:00 Lesung
Genossenschaft Kreuz / Kreuzgasse / 4500 Solothurn

Ein Preis für jahrzehntelanges Schaffen. Der Autor mit seiner Olivetti lettera 1994 in der Toscana.

Preis für Literatur 2019

Medienmitteilung der Staatskanzlei des Kantons Solothurn

PREIS FÜR LITERATUR

Felix Epper, Autor
geboren am 20. Juni 1967 in St. Gallen
Bürger von Hohentannen (TG) , wohnhaft in Solothurn

Felix Epper, 1967 in St. Gallen geboren und heute in Solothurn wohnhaft, ist mit seinen Texten seit vielen Jahren ein fester Bestandteil des regionalen Literaturschaffens. Der Autor (…)  vermischt realistische Begebenheiten mit fiktionalen sowie auch mit surrealistischen Stilelementen. Auf seiner Website «Felix Epper schreibt» oder als E-Book veröffentlicht er Prosa und Poesie, in Magazinen und Zeitschriften erscheinen seine kurzen Geschichten. Felix Epper erhielt 2004 einen Werkjahrbeitrag des Kantons Solothurn und war 2015 «Writer in Residence» in der Villa Ruffieux in Sierre.

 

Die öffentliche Übergabefeier findet am Montag, 11. November 2019, um 18.30 Uhr, im Stadttheater Olten statt.

 

 

 

Eine Langeweile

“Do you think that one could treat his paintings like novels?”
Virginia Woolf über Walter Richard Sickert

Kunstausstellungen überforderten Damian, machten ihn immer schwindelig. Er wurde wortkarg, unleidig, gar aggressiv. Am besten war es, sie allein zu besuchen. Auch mit Kino und Theater verhielt es sich so. Nichts war schlimmer als Smalltalk unter Strassenlampen. «Wir erwachen aus unseren ureigenen Träumen», hatte Damian einmal gesagt. «Wie könnten wir denn wirklich darüber reden.» Damian war aber heute nicht allein. Er sagte, er habe sich lange gefragt, warum ihn dieses eine Gemälde in der Tate Modern noch immer so sehr beschäftige. «Erstaunlich, dass es uns überhaupt aufgefallen ist», meinte Esther. Diese dichte Hängung der Bilder war nicht nur eine Überforderung des Kunstfreundes. Es sei nachgerade eine Beleidigung jedes dieser einzelnen Genies. Van Gogh, Rothko und eben auch Sickert. Damian schwieg und sie verstanden sich. Beide hatten sie die Geduld aufgebracht still vor dem Gemälde, das die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg nicht zuletzt im Titel so unglaublich treffend darstellte: L’Ennui. Die Langeweile.

Ennui c.1914 Walter Richard Sickert [Link zur Tate Modern inkl. grösserer Abbildung des Kunstwerks]

«Ibsens Gespenster spuken hier», referierte Esther. «Und Virginia Woolf…» — «Sei still.» Hier war sie wieder. Die Ermattung. Damian blinzelte in die Sonne. Er hatte nicht an Woolf gedacht. Er kümmerte sich nicht um Esthers Seminare in vergleichender Literaturwissenschaft. Sagte er jetzt Julien Green, würde sie ihn auslachen. Er würde wieder verloren haben. Sein ahistorisches freies Assoziieren. Er versuchte bei seiner Erinnerung zu bleiben. Er würde zu Esther sagen: Der Leser von Greens Romanen will immer wieder die Fenster aufreissen, lüften, Durchzug erzeugen. Green wurde kurz vor dem Tod von der Neuen Zürcher Zeitung in dessen Pariser Wohnung besucht. Man druckte damals nur die Anzeigen farbig. Die grob gerasterten Bilder waren schwarz-weiss. Doch Damian wusste: Die Vorhänge mussten dunkelrot sein, blutrot wie die samtene Ummantelung eines Sarges. Green lebte fast ein Jahrhundert lang. Ich habe ihn 1988 entdeckt. Heute kennen ihn nicht einmal mehr die Schwulen. Geschweige denn konvertierte Katholiken.

«Wenn du nicht lesend durch Balzac, Maupassant und Proust spaziert bist, kannst du Green nicht wirklich verstehen. Ich meine. Das ist nur meine bescheidene Meinung. Jetzt bleib doch stehen! Wir sprechen miteinander! Du! Die Asche sei kalt, schreibt Virgina Woolf. Wie kann sie das um Himmels Willen so genau wissen?»

Damian wischte sich den Schweiss von der Stirn. Endlich allein. Er hatte London satt. So wartete er am Bahnhof Montparnasse in Paris auf den Zug. Und schrieb:

Perrots Zigarre

Wann hatte Monsieur Perrot das fliehende Kinn des Dienstmädchens zu hassen begonnen? War es unlängst zu Weihnachten in dieser Stube gewesen oder einmal zu Ostern im letzten Jahrtausend? Gedanken schwirrten in der sommerlich dumpfen Stubenluft wie lästige Fliegen. Vergeblich blies Perrot, diese Stattlichkeit vor dem Herrgott, Rauchringe gegen den bleiernen Überdruss. Zu allem Unglück waren die Zigarren seit Jahrzehnten von der billigen Sorte. Teppiche, Vorhänge, Spitzendeckchen und auch die papierenen Blumen stanken muffig, abgestanden. Auch Schösschen und Häubchen der Clémentine. Einer dieser Sonntage und Madame war noch nicht vom Kirchgang zurück. Clémentine gehörte zum Inventar wie das kleine Grabhügel-Imitat des Brüderchens William auf der Kommode (gestorben im zarten Alter von 11 Jahren). Manchmal zerdrückte die gute Seele ein Tränchen im Augenwinkel. Wahrlich, es gibt bessere Orte als diese Stube voller Gobelins, Deckchen, Aschenbecher Nippes und Ennui. Monsieurs Hand streifte wie eine Zufälligkeit über die Schlaufe der Schürze am Rücken des leider schon ältlichen und fliehenden Mädchens. Ein Seufzer, und der Rock hob sich wie von selbst. Danach zündete Perrot die erkaltete Zigarre mit einem weiteren Streichholz wieder an. Die 3 cm lange Aschenschlange zerstäubte er, als Madame in die Stube eintrat. Wie immer entbrannte dann der Streit, ob zu lüften sei oder nicht. Madame Perrot nahm einen Hauch von Parfum wahr. „Keine Herrenbesuche, Clémentine“, lachte sie und legte das Kirchengesangsbuch auf den Stubentisch. Das Lesezeichen stak noch wie ein Messer auf Seite 315: „Kündet den Verzagten: Seid stark.“ — Pfarrer Colbert habe schön dazu gepredigt, würde Madame jetzt sagen und eine Orange schälen. Spitzige Finger, ein wenig „vergichtet“.  Auch ein schon tausend Mal gehörtes Wort. Sie genoss die einschiessende Säure in die kleine Wunde am Ringfinger. „Clémentine!“, rief sie. „Wie steht es um die Suppe?“

Felix Epper, 2019
Erschienen im Solothurner Kulturmagazin Sorock Nr. 6/2019

Vorstadtgeschichten goes Downtown

Vorstadtgeschichten – Die Solothurner Lesebühne

Am Donnerstag, 25. April 2019 — ab 20.30 Uhr

Die erste Ausgabe der Solothurner Lesebühne in neuer Lokalität, von der Vorstadt in die Altstadt. Das Ambiente des wunderschönen Gewölbekellers des Stadt Keller wird den Geschichten eine spannende Atmosphäre bieten.

Die, wie Gastgeber Daniel Glutz mitteilt, «bezaubernden Autoren» werden sein:
Vera Probst — Nora Althaus — Livia Nützi — Felix Epper